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Le camp d’internés 1914-1919
Le camp d’internés 1914-1919

Dieser Internet-Auftritt verfolgt das Ziel, möglichst viele Informationen über das Internierungslager auf der Ile Longue zusammenzustellen, damit Historiker und Nachkommen der Internierten sich ein Bild von den Realitäten dieses bisher wenig bekannten Lagers machen können - nicht zuletzt auch, um die bedeutenden kulturellen Leistungen der Lagerinsassen zu würdigen.

Le but de ce site est de prendre contact avec les familles des prisonniers allemands, autrichiens, hongrois, ottomans, alsaciens-lorrains... qui ont été internés, pendant la Première Guerre mondiale, dans le camp de l’Ile Longue (Finistère).

Die Theatermappe
On-line gesetzt am 9. März 2020
zuletzt geändert am 3. Juli 2020

von Gérard

In der Lagerzeitung „Die Inselwoche“ Neue Folge X Nr. 52 vom 31. März 1918 erschien die folgende Notiz:

„Das Theater gibt in den nächsten Tagen eine Mappe heraus, die seine einjährige Wirksamkeit in Bild und Wort verdichtet, die seine zerflatternde Strahlung sammelt und sie dem Erinnern bewahren soll.
Die Zeichnungen [Leo Primavesi] zeigen Szenenbilder, Räumlichkeiten, Rollenbilder der Schauspieler, Techniker in Tätigkeit, der Text [Willi Hennings [1] ] versucht, charakteristisches der Zeichnungen zu unterstützen, und die Erscheinung des Theaterunternehmens einzugliedern in die Ganzheit des Lagers und in große Zusammenhänge.“

Vor etwa einem halben Jahr konnte der Verein „Île Longue 14-18 e. V.“ eine Sammlung gebundener Zeitungen aus dem Internierungslager erwerben. Dabei befand sich auch ein Satz der oben genannten Lithographien, die wir daher hier nun mit dem zugehörigen Text veröffentlichen können.


Die Mappe
Titelblatt

Mit dem Beginn der Gefangenschaft geschah daß Grundlegende, daß das wechselnde Gesicht der Dinge zur Maske erstarrte. Es vollzog sich eine Verzerrung des Zeitlichen: Gegenwart losch, zerfiel in Vergangenheit und Zukunft, Gegenwart bedeutete nicht länger Erfüllung und Erlösung — Ziel des strebenden Willens. Es kreisten Tage und Monde, die nichts enthielten als wehmütige Durchdringung des Gewesenen und sehnsüchtiges Erwarten des Kommenden. Dann gab es ein Festwerden des Räumlichen: das gleiche Bild behauptete sich und erschöpfte allmählich seine Reize. Der Rahmen dieses Daseins war so zugschnitten, daß seine Maße die Fristung der körperlichen Existenz gewährleisteten, und es wagte niemand, die vorübergehende Bedeutung dieser lahmen Spanne Zeit zu bezweifeln.

Es bedurfte der Jahre um den Glauben an solches Provisorium zu erschüttern, um zu Regungen, zu Betätigungen zu drängen, die das Heute irgendwie belebten und bereicherten, die der rinnenden Stunde Werte entrissen. Man war es müde geworden zu phantasieren und zu harren. Alles verblaßte, das Gegebene war als Eindruck mechanisiert, Neues kam nicht. Man wollte wieder etwas vom Augenblick, man stellte Forderungen, suchte Inhalte: man ging über zur Aktualität.

Vereine verbündeten sportliche oder turnerische Ziele, Handwerk erblühte, Handel begann sich zu regen. Hilfsausschüsse entfalteten Tätigkeit, Unterrichtskurse, Bibliotheken, Konzerte, Zeitung, Theateraufführungen wurden wichtig als Kampfmittel gegen fortschreitende Zersetzung.

Allgemeiner gesagt: ein Gemeinwesen organisierte sich. Zivilisation formte das Nackte, Primitive des äußeren Zustandes um. Eine Menschenmasse — durch die Gewalt eines bedrohlichen Schicksals zusammengeballt — teilte und ordnete sich von neuem nach den Prinzipien überkommener Gesellschaftsschichtung. Kulturelle Strebungen, die sich in einigen Köpfen als Dispositionen, als Erinnerungsvorstellungen, als Sehnsüchte erhalten hatten, entfalteten sich und suchten Wirkung nach außen.

Hier nun handelt es sich um das Theater.

G.W. Pabst

Nach verschiedenen erfolglosen Versuchen gelang es dem Schauspieler G. W. Pabst [2] zu Beginn des dritten Jahres der Gefangenschaft, eine Bühnenunternehmung durchzusetzen.

Pabst sah ein Feld der Betätigung vor sich von eigenartiger Gestalt. Es galt, Berufserfahrungen und -eindrücke umzuwerten, um der Besonderheit der Umstände — des gegebenen oder erreichbaren Materiales, wenn man so will — gerecht werden zu können. Es galt, einen leeren Raum von Grund auf zu erfüllen mit dem Blut und dem intensiven Leben, daß nun einmal die expansive Atmosphäre des Theaters ausmacht. Es galt, inmitten der schweren Bedrängtheit dieses Daseins einen Ort zu schaffen, der den bunten Wandel der freien Realität zur stärksten Anschauung brachte, der die im Dunkel irrende Phantasie in die Höhe vergegenwärtigten, geformten Geschehens riß. Es galt endlich, der allgemeinen Entwicklung Wege nach innen zu brechen durch Erregung und Läuterung der seelischen Inhalte.

Mit der Setzung dieser Ziele erhob sich zunächst die Forderung eines äußeren Rahmens, so glaubhaft, so illusionskräftig und eindringlich, als es irgend zu erreichen war. Man traf auf Hindernisse, wohin man sich wandte: Wie sollte man Weite - Licht - Duft einer Landschaft, Wald und Berg, Gärten, Bäume, Sonne und Mond in der gestopften Enge dieser Bretterwände möglich machen? Wie verhielt es sich mit der Vielgestaltigkeit menschlicher Behausung, die das Charakteristische und Schicksalhafte ihrer Bewohner symbolisieren, die das Merkmal des Übertünchten, Improvisierten — des flüchtig Nachgebildeten verlieren mußte? Was hatte zu geschehen, um die Einzelkräfte trüber Petroleumlampen zu vereinigen und sie den hohen Anforderungen moderner Ausstattung anzupassen?

Leo Primavesi
Selbstbildnis

Nun, es fanden sich Köpfe, die es unternahmen, Wege zu bahnen durch das unerforschte Land dieser Schwierigkeiten.

Primavesi [3], der Maler, wußte Mannigfaltigkeit der Welt, in der menschliche Schicksale sich abrollen, farbig und plastisch im Raume aufleben zu lassen, wußte aus der geringen Raumtiefe sphärische Wirkung herauszuholen, wußte den Charakter der Oertlichkeiten den Stückinhalten auf das Schärfste einzugliedern.

Ich sah seine kleine Gestalt in ungeheurer Geschäftigkeit gegen eine gewaltige Leinwand los wüten. Seine Barthaare waren gesträubt, seine Blicke stachen unter dicken Brauen hervor: feindlich – messend – erbost .Unter seinen kreisenden Armen erblühte Land – Gärten und Schlösser – , die weiten Windungen eines Stromes. —

Ich sah auch Jessen [4], den technischen Leiter, der sich so mit der gedrängten Enge auseinandersetzte, daß immer ein geschlossener Rahmen erstand, ein einheitlicher Ausschnitt, in dem die Phantasie sich nicht stieß, sich nicht verwundete. —

Alt Heidelberg
Szenbild
Die versunkene Glocke
Szenenbild
Jessen - May
Der technische Leiter K. Jessen mit seinem ersten Rat A. May

Ich bewunderte May [5], seinen rastlosen Fleiß, sein umfassendes Können, das sich mit Sicherheit auf unterschiedlichsten Gebieten bewegte. Ich beobachtete Klemenčič [6], dessen Findigkeit Wunder verrichtete. Ich sah Eckerlin [7] an jenen Drähten ziehen, die sein Geist beseelt hatte, und es wechselten Sonne und Mond, Licht und Dunkel, Tag und Nacht — Ich drang in ein Gemach ein, in dem Nadeln flogen, Scheren klapperten, und den sanften Händen Meilick’s [8] die knisternde Lust weiblicher Gewänder entstieg. — Es war ein gefährlicher Aufenthalt.

Aber sind wir nicht ein wenig neugierig? Sind wir nicht im Begriffe, Blicke hinter die Kulissen zu tun, hineinzulauschen in jene Werkstätten, in denen der Lärm der Arbeit tobt? In Wahrheit, wir befinden uns auf dem besten Wege, das Werden seiner Heimlichkeit, seiner Unschuld zu entkleiden. Wir wollen uns entschließen, solchen Lockungen in Zukunft zu trotzen, wir wollen uns Gesamtwirkung des Theaters bewahren und unsere Aufmerksamkeit, unsere Einbildungskraft unzerteilt und bereit erhalten für die Ausstrahlung eines Ganzen. Denn wir erkennen, daß niemals das Wie des Werdens gilt, sondern das Gewordene, das vollendete Werk. Wir erkennen, daß unsere bedrängte Sinnlichkeit ein Verdichten aller Einzelzüge zu Wucht und Wirkung fordert, daß unsere frierende Seele sich sehnt nach einem Wissen von Schicksalen und Erlebnissen, von unbegrenzter Seinsmöglichkeit, von Süße und Fruchtbarkeit und dunklem Gesetz des Geschehens, daß unser irrender Schritt jene Brücken sucht, die aus der dumpfen Ereigniswelt des Lagers hinüberführen in die Kraft des Lebendigen. —

Eckerlin - Klemenčič
Fritz Eckerlin, gib mir die Sonne
Und O. Klemenčič sah an alles, was er gemacht hatte, und siehe da, es war sehr gut.
A.O. Wild - F.C. Sperber
der Geschäftsführer
und der Kassierer
.
Hinter den Kulissen
Die Theater-Friseure
R. Wilke
und
P. Liersch

Bodo Wild [9] ist unsere Jugendlich-Naive. Das will für einen Mann eine überaus schwierige Aufgabe bezeichnen. Das will heißen: im Einklang bleiben mit jenem verklärten Erinnerungsbilde, das immer noch unser lebendigster Besitz, das ins Ideelle gesteigerte Wirklichkeit ist. Dieses reine, äußerste Ziel zu erreichen, bleibt wohl unmöglich. —

B. Wildt
als „Rautendenlein“
in „Die versunkene Glocke“

Aber immerhin - immerhin: prüfen, wir ums: Waren wir nicht zuweilen ein klein wenig verliebt in dich Flatternde, Anmutige, die Du Verdichtung jenes Weiblichen strahltest, das vor Allem frische und Sprudeln und Grazie des Körperlichen ist? Hast Du nicht immer irgendwie verwundet, mein zierliches Figürchen? — Ich muß einmal von Dir geträumt haben. Du warst sehr jung in diesem Traum, trugst kurze Kleider und ich versank völlig in der Betrachtung deiner schlanken Beine — Es handelte sich, glaube ich um eine Angelegenheit, in der ein „Bieberpelz” eine dunkle Rolle spielte — Du warst übrigens ganz entzückend verderbt, mein Täubchen — Später verschwandest Du mit einem Knaben an der Hand im angrenzenden Gemach. — Du wolltest ihm ein Bilderbuch zeigen — Gewiß ich entsinne mich ganz genau, daß ich in jenem Traum außerordentlich bedauert habe, dies Bilderbuch nicht einmal selber sehen zu dürfen — Aber ich muß mich nun abwenden von dir, mein Mädchen, denn ich befürchte in weiteren Geständnissen zerfließen zu müssen. —

L. Bergmann und J. aus dem Dahl
im „Weissen Rössl“

Joseph aus dem Dahl [10] – Verzeihung Herr Piepenbrink, meine ich natürlich. Wissen Sie, Herr Piepenbrink, daß ich Sie beneidet habe, als Sie in jener Weinstube saßen — Sie erinnern sich gewiß — mit den beiden „Journalisten’’ — Wieviel Flaschen waren es doch? Ich hatte grenzenloses Zutrauen zu Ihnen. Das Voluminöse Ihres Bauches beruhigte mich. An Ihres Angesichtes lieblich geröteter Fleischmasse besänftigte sich mein kritischer Zorn. Ich mußte Ihnen zuwinken — Ich wollte mit Ihnen ein Diner essen. — Ich wollte mich mit Ihnen besaufen. — Aber Sie verschwendeten das Massenaufgebot Ihrer lärmenden Biederkeit, Ihres geräuschvollen Wohlwollens an jene Journalisten, jene Stümper, die meine Feder nächstens fressen möge — Ich habe Sie übrigens kürzlich wiedergesehen — Befanden Sie sich nicht in einer kleinen Bedrängnis, Herr Kommerzienrat, wie? Ihre“Moral" war nicht ganz präsentabel, nicht wahr? Nur keine Ausflüchte, mein Wertester, denn – im Vertrauen gesagt – ich habe Sie genau beobachtet. Ich habe es gesehen, als Sie das Tagebuch jener Dame stahlen, das Notizen über Ihre geheimsten Wege enthielt — Beim heiligen Bacchus. ich habe mir die Hände gerieben, — Ihre feiste Angst war ein Fest für mich, denn Sie hat mir eine Meinung bestätigt.

E. Erichsen
als Flachsmann in „Flachsmann als Erzieher“

Ich sehe einen graubärtigen, bebrillten Mann in ein Zimmer treten, dessen kahle Nüchternheit mich an Schulzeiten erinnert. Es erhellt als bald, daß dieser Mann Flachsmann heißt und ein Schulrektor ist. Er erfüllt den Raum sofort mit einer näselnden Stimme. Er verstreut nörgelnde Pedanterie – hohle Autorität. Er bewegt sich gebückt-händereibend-mißtrauisch umher schielend. — Und er entwickelt sich, dieser Herr Flachsmann. Er erweist sich bis zur Evidenz als höchst saubere fruchtgewisser Verhältnisse. Er offenbart sich blendend in jeder Gebärde seines Schicksals.

Welch’ ein Stück Mensch, welches Gemisch aus krampfhaftem Machtverlangen, Bosheit, geduckter Angst, geistiger Armut, Lüsternheit — Wirklich getroffen und stark durchgeführt, diese Rolle, wirklich ausgezeichnet, Erichsen [11]. —

G. Sauter, P. Weigt u. H. Seeger
in „Moral“

Seeger [12]: fleischgewordener Schneid. Verkörperung des Strammen, Korrekten, der Haltung, oder feudalen Leichtsinns, oder eines gewissen Beamtentums: (Druck nach unten, Servilität nach oben.) Verdichtung autoritativer Begriffe: Recht, Pflicht, Subordination. Äußerlich - gesellschaftlich orientiert. In meiner Vorstellung mit dem Monokel organisch verwachsen. Kurz: beglückendste Harmonie und als Ausdruck nicht mehr überbietbar. —

E. Laage - O. Kläbisch
E. Laage als Majer in „Die Lokalbahn“
O. Kläbisch als Amandus in „Jugend“

Halloh! Temperament! — Eilig plätschernde Rede, — lachender Atem spielenden, hüpfenden Seins — Laßt die Kraft in den Raum explodieren, laßt die Flamme nur schießen — Rauchen muß es, Tanz muß es sein: anmutigster Tumult, leichter, schwebender Sieg: das ist der jugendliche Liebhaber: Kläbisch [13] — Einmal aber war er ein Anderer. Einmal griff er ins Tiefste. Einmal erfaßte er beweglichen Geistes eine beladene Existenz: Amandus in der Jugend. Kläbisch gelang es, aus diesem Idioten eine ernste schicksalhafte Figur zu formen. Hier war Intensität des Ausdrucks. Das täppische, unbeherrschte Gebahren eines jungen Jagdhundes wechselte mit den heftigen Entladungen bösester Instinkte. Dieser Amandus entwickelte sich so, daß die immer bereite Heiterkeit der Zuschauer im Grunde erstickt – ja, gewandelt wurde in das atemlose Schweigen der Erschütterung.

Gnädiges Fräulein, gnädigste Frau, ich nähere mich in Demut und Ehrfurcht. Ich bin etwas verwirrt, etwas atemlos – das gebe ich zu. Ich bin der Nähe einer Dame, der Luft des Salons nicht mehr gewachsen. Auch scheinen Sie mir fern und königlich in Ihrer Hoheit - Kühle -Herablassung. Auch sind Sie gar befreundet der Schärfe des Wortes — Sollten wir vielleicht auf dieser bewegten Basis — ? Nein! Ihre gepflegte Person und mein ergrauter Mantel – das ergäbe einen Mißklang.

K. Held und W.v. Bogen, H. Willnow und A. Erichsen
in „Die Ehre“

— Ah, es haben Revolutionen in mir gewütet, – soll ich beichten? Ich wollte alle Hindernisse mannhaft niederboxen, ich wollte Explosionen von Leidenschaftlichkeit in Briefe ergießen, in lyrische Gedichte — Aber heute habe ich mich zum schweigenden Verzichte durchgewunden. Ich werde Ihre weichen, fraulichen Reize, das süße Oval Ihres Gesichtes, Ihre verhaltenen, gleitenden Bewegungen, lieber Willnow [14], auch in kommenden Tagen aus jener Ferne erleben müssen, die mir nun einmal gesetzt durch das Maß Ihrer gelassenen Zurückhaltung und meiner Schüchternheit.

Weigt [15] – mein sehr komischer Alter. Habe ich dich nicht durchschaut, Vater Heinecken? Als Du Deine Tochter verfluchtest ob ihrer angetasteten „Ehre“, da war Deine Stirn auf eine höchst bedrohliche Weise zerklüftet. „Er wird beginnen, um sich zu hauen“, dachte ich mir. „Er wird die allerliebste Sündhaftigkeit dieser Tochter hinunterohrfeigen müssen in die unterste Hölle der Scham — Er wird sich als reißender Tiger entfalten“ – Aber da sah ich Deinen Mund an, und ich ernannte ein Schicksal, das um diesen Mund unauslöschlich aufgezeichnet stand. Niemals wird man Dich fürchten, alter Heinecken, niemals dich ernst nehmen. Dein Machtwille greift ins Leere, denn du bist weder Mann noch Vater, weder ernst noch heiter, sondern Du bist einfach komische Wirkung.

Th. Schultze, B. Wildt und L. Bergmann
in „Weh’ dem, der lügt“

Leo Bergmann [16]: Sie waren einmal ein junger, maßlos begeisterter Dichter inmitten einer Journalistenschar. Ging nicht die Rede, daß Sie es gewagt hatten, diesen Leuten Ihre Gedichte vorzulesen? Oh, ich verstand Sie, ich kannte das: man hat irgendein beschriebenes Papier in der Brusttasche und – in Überschätzung der Wirkungsmöglichkeit, im Zustand eines glühenden Fiebers – zieht man es heraus und – liest seine Gedichte vor. Man glaubt an seine Befähigung, die Welt zu erobern durch überschäumendes, schrankenlos fließendes Gefühl. Die Welt aber ist nun einmal so beschaffen, daß sie solche Ausbrüche entweder mit eisigem Schweigen übergebt, wie etwas Peinliches, oder in Gelächter ausbricht — Ich traf Sie häufiger seitdem. Sie haben sich als beweglich und entwicklungsfähig erwiesen. Sie haben sich ein wenig umgesehen in diesem Leben. Ich sah Sie als blondlockigen Atalus in „Weh’ dem, der lügt“ Sie saßen in der Ruhe und Einsamkeit des Waldes und schnitzten sich ein hölzernes Schwert. Sie waren beherrscht, angemessen dem Orte und der Lage, Sie entsprachen dem Tempo und den Forderungen des Spiels. Ich sah Sie als Oberkellner im weißen Rößl umhersegeln und diesen Posten so vollkommen erfüllen, daß Ihre Herrin, die übrigens meine uneingeschränkte Hochachtung genießt -, Sie lieber heiratete, als daß sie Sie entließ. Ich sah Sie im Kollegium des Erziehers Flachsmann, und Sie befanden sich in erfreulichster Ordnung im Sinne dieser Komödie. „Gehen Sie“, wollte ich Ihnen zurufen, „das ist es! Niemals mehr Wirkung wollen, als es den Mitteln und den Verhältnissen entspricht. Nun haben Sie ein Ziel erreicht, nun haben Sie einen Pfad gefunden.“ Das wollte ich Ihnen in der Tat zurufen.

Laage [17]: hartgeprägter Vatertypus. Streng, sachlich. Unbedingter Verteidiger staatlicher Autorität, gesellschaftlicher Ordnung. Schärfste Auffassung von Pflicht und Zucht als Grundlagen jeglicher Gemeinschaftsmöglichkeit. Dualismus zwischen Jovialität und der Würde abgegrenzter, gefestigter Weltanschauung. Starker Vitalität gegenüber ratlos. Darsteller hoher Beamter, geltender Persönlichkeiten. In der Durchführung Kraft und Einheitlichkeit der Auffassung verratend.

Ich hatte kürzlich „die Ehre“, ein junges Ehepaar kennen zu lernen. Die Herrschaften gefielen mir, denn sie bewegten sich durchaus natürlich und ungehindert. Ich sann lange darüber nach, wo ich diesen Leuten schon begegnet war. Es muß in gewissen nördlichen Gegenden Berlins gewesen sein. In jenen seligen Gefilden, da man einen Bittern für fünf Pfennige trinkt, aber bar bezahlen muß, da man nichts als die Süße des Materiellen anerkennt. – Da irgendwo muß es gewesen sein. Übrigens bin ich überzeugt, daß sowohl Ihre finstere, zuweilen etwas gemeingefährliche Männlichkeit, lieber Held [18], als auch ihr hemmungslos entfesseltes Weibestum, von Bogen [19], das Entzücken Heinrich Zilles gefordert hätte. Sie waren wirklich beide eine imponierende Kundgebung, ein bereicherndes Erlebnis.

G. v. Cramon
als v. Schmettau gen. Zürnberg in „Moral“

Herr von Cramon [20]: stark wirkend durch Gegensatz zwischen Außen und Innen, zwischen gemessener Ruhe – Betonung geschliffenster Formen – konventioneller Wichtigkeit und bewußtem, karikierendem Humor, zwischen aristokratischer Arroganz und hohler Langeweile. Wie Sie berichten, mußten Sie einmal Ihre vorzügliche Moral auf eine besondere Weise vor den indiskreten Augen der Welt schützen: Sie flüchteten notgedrungen in den Kleiderschrank einer Dame. Ich bin der unerschütterlichen Meinung, Herr von Schmettau, daß Sie selbst an diesem dunklen Orte Delikatesse des Gebarens und Haltung bewahrt haben.

Mutter Wolffen: Man hat in aller Geschwindigkeit einen kurzen Ausschnitt aus Ihrem irdischen Wandel an uns vorüberziehen lassen. Nach meiner Meinung befinden Sie sich auf dem richtigen Wege. Einer derartigen umsichtigen Geschäftigkeit, einer solchen Pfiffigkeit kann es nicht fehlen: einen Rehbock, eine Ladung Knüppelholz, einen Biberpelz in wenigen Tagen zu — erwerben? Recht so! Wenn Sie in dieser Weise weitermachen, dann — werden Sie das Ziel Ihrer Klasse und einer höheren Klasse sicherlich erreichen. Sie sind mit mir der Meinung, daß das wirkliche Leben unserer Zeit von anderen Zielgedanken geleitet wird, als es uns die übliche Moral verraten will, nicht wahr? Recht so! Aber Sie sollten noch tiefer greifen, Mutter Wolfen. Sie sollten sich von Ihrem Gatten scheiden lassen. Wie? Sie wollen nicht? Sie lieben ihn? Unsinn! Dieser Mann mag einzig sein in seiner brummigen, bedächtigen und brutalen Art meine bedingungslose Hochachtung, Schultze [21] – aber er ist ein Klotz, sage ich Ihnen, ein Felsblock auf Ihrem Wege. Sie verschwenden zu viel Kraft, sage ich Ihnen, wenn Sie dies grobe Blut mit sich reisen müssen. Der Zank und die unnützen, heftigen Worte werden dann nie aufhören. – Den größten Widerstand mit dem geringsten Mittel überwinden: kennen Sie diesen Grundsatz aller Politik? Ich glaube, sie sind gescheit genug um ihn zu befolgen, nicht wahr Sauter [22]? Recht so!

Th. Schultze und O. Winkler, O. Kläbisch und J. aus dem Dahl
Th. Schultze und O. Winkler in „Der Pfarrer von Kirchfeld“,
O. Kläbisch als Waldschrat und J. aus dem Dahl als Nickelmann in „Die versunkene Glocke“

Sie halten nicht sonderlich viel von der Scheidung, die ich Ihrer Frau Gemahlin vorschlug, nicht wahr, Vater Julian? Denn diese Frau ist ja das Agens, das Ihre plumpe und verstockte Körperlichkeit treibt und richtet. Sie haben recht! Sie müssen diese Trennung um jeden Preis verhindern, denn wie ich sie kenne — ? Sie würden Ihre Tage zwischen Himmel und Bier verbringen, würden langsam aber umso entschiedener verkommen müssen. Und meine bekümmerten Augen würden einmal Ihre gebeugte Gestalt streifen – vielleicht an den gesegneten Ufern der Spree oder der Elbe, oder in irgendeinem Hafenplatz dieser jammervollen Erde, wo Sie Ihre Zeit hinschleppen, indem Sie nachdenklich Ihren Tabaksaft trüben Fluten vermengen — Also festhalten an der Frau und in ihrem Sinne weiterarbeiten – Dann werden Sie eines Tages ein braver Mann, ein wohlgeachteter Hausbesitzer und Rentier sein. – Ja, in dieser Rolle, Schultze, haben Sie allerdings meine bedingungslose Anerkennung gefunden. Das war eine reife Prägung. Sie waren das Gefäß, daß sich mit diesem Vater Tulius Wolff als Inhalt trefflich zu einem Ganzen einte.

Wo ist Fatzke [23]? Entschuldigung: Barkowsky? Er soll die Spielplakate in den Baracken ankleben, er soll die Schauspieler zur Probe bitten — Verflucht, haben Sie Fatzke gesehen? Gewiß, er kreuzt im Lager umher, der Requisitentiger — Fatzke hier und Fatzke da — Fatzke ist siebenmal gesiebt. Er spielt reizende Köchinnen, schweigende Diener, kräftige Kutscher, heldenmütige Krieger, zornige Polizisten. Fatzke ist überall, er ist wesentlich.

Fatzke - G. Sauter
Fatzke als Heinrich in „Im Klubsessel“
G. Sauter als Wittichen in „Die versunkene Glocke“

Es war ein hohes Maß künstlerisch gerichteter Sehnsucht Bedingung, um aus totem Material, blinden, ruhenden Willen und geformten Ideen äußerstes Leben in den leeren Raum hineinzuentwickeln und zu gestalten. Eine hartnäckige, unerschütterliche und zielsichere Energie, eine durchhaltende Geduld war notwendige Voraussetzung, um durch eine Welt größter und kleinlichster Hindernisse hindurch einen Pfad zu brechen. Der Mann, der neben seiner beruflichen Erfahrung diese Eigenschaften in sich vereinte, war G. W. Pabst.

Ich für meine Person, der Ich mich in einigen Proben mit unbestreitbarem Mißerfolge als Heidelberger Käthchen bemühte, ich habe ihn damals verstohlen beobachtet. Wie er da umherging mit seinem radikal zurückgestrichen Schopf, eindringlich-blauen Blicken hinter dicken Brillengläsern und schneidender Rede hinter den Zähnen, schien er mir die Inkarnation von Tatkraft und verhaltener Begeisterung , schien er mir ein Gefäß voller Spannungen, ein Mittelpunkt, der das Ganze ordnete und schöpferisch durchdrang. Ich habe die sichere, intuitiv zufassende Art bewundert, in der er aus einer Rolle in die andere hineinsprang Agens, diese immer bereite Art, die jedem Einzelnen Geste, Ton, Miene zu suggerieren wußte. Ich habe ihn in Versammlungen und Beratungen gesehen, ideenvoll, – führend – immer den Bleistift zur Hand und gewillt, seine Einfälle auf dem Papier klarer auseinanderzusetzen, zu unterstützen —

Es ist zu sagen, daß es Pabst gelungen ist, aus seiner künstlerischen Sehnsucht heraus Aufführungen zu schaffen, die nichts mehr mit Dilettantismus gemein hatten.

Auch geschah es ja nicht nebenbei und gelegentlich, wenn man hier spielte, nicht mit demjenigen Rest von Kräften, den ein eigentlicher Beruf zur Verfügung ließ, sondern es geschah ganz. Es geschah unter einem Zwang, aus dem Willen zur Wirkung, aus dem inbrünstigen Willen, ein verlorenes Leben im Bilde wieder nahe zu bringen. —

Also lebt diese Bühne inmitten unserer Ratlosigkeit: nicht jene ungeheure Flamme, die die Banalität, den Unsinn, den Tumult dieses Daseins aufsaugt, umformt und sinnvoll gestaltet, die die große Stille zeugt: nicht reine Kunst, sondern ein wärmender Herd gleichsam, eine milde Glut, die zuweilen Funken sprühte, und ein Geschehen, ein Handeln, ein Lebendiges hinüberstrahlte in sonst inhaltlos treibende Stunden; eine läuternde Glut, die einer elementaren und verwildernden Sinnlichkeit immer wieder den Weg einfachen, bestimmten Fühlens wies.

Willi Hennings.
Februar 1918.


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