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Le camp d’internés 1914-1919
Le camp d’internés 1914-1919

Dieser Internet-Auftritt verfolgt das Ziel, möglichst viele Informationen über das Internierungslager auf der Ile Longue zusammenzustellen, damit Historiker und Nachkommen der Internierten sich ein Bild von den Realitäten dieses bisher wenig bekannten Lagers machen können - nicht zuletzt auch, um die bedeutenden kulturellen Leistungen der Lagerinsassen zu würdigen.

Le but de ce site est de prendre contact avec les familles des prisonniers allemands, autrichiens, hongrois, ottomans, alsaciens-lorrains... qui ont été internés, pendant la Première Guerre mondiale, dans le camp de l’Ile Longue (Finistère).

„Fünf Jahre hinter Stacheldraht“. Bericht des Zivil-Internierten Hellmut Felle
On-line gesetzt am 5. April 2014
zuletzt geändert am 1. Februar 2024

von Gérard, Sabine

Hellmut Felle

„Fünf Jahre hinter Stacheldraht“

Vorbemerkungen von Hellmut Felles Enkelin, Sabine Herrle

Geschrieben im April 2014, ergänzt im Januar 2016

Unser Großvater Hellmut Felle wurde 1891 in Ulm geboren, als einziger Sohn unter drei Geschwistern. Die Familie Felle war seit längerem dort ansässig – eine solide protestantische Handwerker- und Kaufmannsfamilie.

Ein Zeichen des sozialen Aufstiegs der Familie war, dass Hellmut auf die Oberrealschule geschickt wurde, das Abitur machte und studierte. Er war, wie viele der Zeitgenossen aus dieser Schicht, kaisertreu, sehr konservativ und sehr patriotisch gesinnt und trat während des Studiums einer Burschenschaft bei. Er war ein begeisterter Sportler. Sport begriff er – auch das recht typisch für diese Schicht in dieser Zeit – als einen Weg, den Körper für einen möglichen Krieg fit zu machen (in seinen Worten: sich für den Kampf zu stählen). Er interessierte sich für Geschichte, spielte gut Klavier und war ein begabter Zeichner.

1914 war er für die Firma Siegle aus Stuttgart als Diplom-Kaufmann in Barcelona tätig, sprach er doch englisch, französisch und auch spanisch. Für uns Enkel schwer nachvollziehbar, war er bei Kriegsausbruch nicht froh, im neutralen Ausland festzusitzen, sondern versuchte, sich nach Deutschland durchzuschlagen, um Soldat zu werden. Mit anderen Gleichgesinnten wollte er im Oktober 1914 per Schiff in das neutrale Italien gelangen, um von dort weiter nach Deutschland zu kommen. Dies Schiff, der italienische Dampfer „Federico“, wurde jedoch von der französischen Marine aufgebracht und es begann für unseren Großvater eine 5-jährige Odyssee als Zivilinternierter durch französische Lager – über das Fort St. Nicolas in Marseille, die Sträflingskolonie Casabianda auf Korsika und dann Uzès ging es 1916 nach Ile Longue, wo er bis 1919 gefangen war. Während der gesamten Zeit der Internierung schrieb er, wenn auch lückenhaft, Tagebuch. Es existieren auch einige Zeichnungen, sowohl von seinem Alltag als auch von der Landschaft, die er während der verschiedenen Stationen seiner Internierung anfertigte, sowie Fotos, letztere alle aus Île Longue.

Zurück in Deutschland, einem Land, das sich grundlegend geändert hatte, empfand er es sehr lange als großen Makel, kein Soldat gewesen zu sein. Die 5 Jahre Internierung beschäftigten ihn sehr – so stellte er seine Notizen und sein Tagebuch , seine Zeichnungen und Fotos sowie einige Zeitungsartikel zu einem Band zusammen, den er „Fünf Jahre hinter Stacheldraht“ nannte. Den Stacheldraht, der das Lager umgab, konnte er nicht vergessen – er regte ihn noch nach Jahren zu Zeichnungen und Aquarellen an.

An eins dieser Aquarelle – es zeigt eine Weide und ein Bauernhaus, durch Stacheldraht gesehen – erinnern wir uns besonders. Es hing im Wohnzimmer der Großeltern in Stuttgart. Für uns als Kinder war es ein rätselhaftes Bild, das wir uns nicht so recht erklären konnten.

Unser Großvater hatte zwar viel mit seinen Söhnen – unserem Vater und unserem Onkel - über die 5 Jahre Gefangenschaft gesprochen, wir selber haben unser Wissen jedoch überwiegend von unserem Vater. Und manche Dinge bekommen rückblickend eine besondere Bedeutung, haben vielleicht mit den Jahren in Gefangenschaft zu tun. So liebte unser Großvater die Natur. Auf gemeinsamen Spaziergängen hieß er uns Kinder tief ein- und ausatmen und forderte uns auf, das Grün nicht nur zu sehen, sondern es auch wahrzunehmen und uns daran zu erfreuen. Seine Schwester Martha betreute jahrzehntelang neben ihrer Arbeit ehrenamtlich Gefangene – ob dies mit den Erfahrungen ihres Bruders zusammenhing, können wir leider nicht mehr erfragen.

Ob und wann es unserem Großvater bewusst wurde, dass die jahrelange Internierung ihm vielleicht auch das Leben gerettet hatte? Jedenfalls schrie er 1939 weder „Hurra!“ noch meldete er sich als Kriegs-Freiwilliger, sondern war froh, dass sein einziger Einsatz während dieses Krieges 1944 aus einem Schanzeinsatz bei Straßburg bestand. Und er war froh, dass sein ältester Sohn Gerhard, unser Vater, aufgrund einer Behinderung nicht wehrtauglich war, also nicht eingezogen wurde (und folglich am Leben blieb).

Sein jüngerer Sohn, Hellmut, schreibt: „ … Rückblickend wage ich zu behaupten, dass dieser Übergriff der Franzosen meinem Vater das Leben gerettet hat. Denn mein Vater war sehr impulsiv und mutig. Er wäre wahrscheinlich bald gefallen.“

Es ist schade, dass es uns nicht mehr möglich ist, unserem Großvater Fragen zu stellen. Zum Beispiel, ob er über das Lager zu den Freimaurern stieß? Über das Projekt, die Geschichte des Lagers Île Longue zu erforschen, hätte er und auch unser Vater sich sehr gefreut. Für uns Enkel ist es spannend und schön, die Aufzeichnungen unseres Großvaters mit anderen zu teilen, nicht zuletzt mit Franzosen.

Freunde, amis, friends
Gustav (Gustavo) Fritz, Helmut Felle, Walter (Fitje) Stemann

Aufenthalt im Lager Ile Longue

(Seiten 118 – 193 des Berichts von Hellmut Felle - den vollständigen Bericht als PDF gibt es hier.)

Im Juni 1916 wurde uns mitgeteilt, dass wir in ein anderes Lager überführt werden sollten. Nachdem während vierzehn Tagen alle möglichen Mutmassungen geschwebt waren, hörten wir, dass wir in das Zivilinterniertenlager Ile Longue bei Brest kommen sollten. Es wurde befohlen, alle Wäsche abzugeben mit Ausnahme derjenigen, die wir auf dem Leib trugen. Die abgegebene Wäsche wurde peinlich untersucht und als grosses Gepäck nach dem Bahnhof gebracht.

Anfang Juli 1916 reiste der erste Transport nach Ile Longue ab. Wir Zurückbleibenden warteten von Tag zu Tag auf den Marschbefehl. Fast stündlich wurden die Gruppenführer zum Kommandanten hintrompetet und ihnen Verhaltungsmassnahmen für die Reise gegeben. Einmal kam der Befehl, wir sollten eine Decke mit auf den Transport nehmen, dann wurde dies wieder geändert, wir sollten zwei mitnehmen, dann sollte der Strohsack mitgenommen werden, dann auch der Schlafsack, zuletzt hiess es: „Es darf gar nichts mitgenommen werden!“ Als sich die Tage des Wartens zu Wochen ausdehnten, wurde es ungemütlich, weil wir nur noch eine Garnitur Wäsche am Leibe hatten. In diesen Tagen des bevorstehenden Abmarsches liess der Kommandant ohne Unterbrechung die Stuben durchsuchen, um nach Tagebüchern und Schriftstücken zu fahnden. Da eine Schweizer Aerztekommission angekündigt war, welche Kranke zur Internierung in der Schweiz vorschlagen sollte, so wurden durch die Abreise viele Kranke der Hoffnung beraubt, zur Internierung in die Schweiz vorgeschlagen zu werden.

Wir anderen, körperlich Gesunden, warteten von Stunde zu Stunde auf den Augenblick, wo wir aus unserem verhassten Gefängnis abreisen würden. Zu unserem Entsetzen wurde Anfang August unser Gepäck vom Bahnhof zurückgebracht und wieder an uns ausgeliefert. Sollten wir denn nie mehr dieser scheusslichen Kaserne entfliehen. Mehr als je drang uns das Gellen der Trompete in die Ohren und rief die Gruppenführer zum Kommandanten. Aufs Neue hagelte es Vorschriften über Grüssen der Vorgesetzten, Ordnung in Stuben und Gängen usw.

Wie zum Hohn drang von der Strasse das Tuten der Hörner der Uzèser Pfadfinder herein, die an unserer vergitterten, bretterverrammelten Kaserne vorbeimarschierten.

Kaum waren nach der Gepäckausgabe einige Tage verstrichen, als wir den Befehl erhielten, es wieder abzuliefern. Es wurde aufs Neue untersucht und nach dem Bahnhof gebracht. Wieder warteten wir voll Ungeduld auf den Befahl zur Abreise. Jetzt traf auch noch die Schweizer Aerztekommission bei uns ein und suchte eine Anzahl von Kameraden aus zur Internierung in Frankreich, darunter auch den jungen Mexikaner von unserer Stube. Eine ganze Anzahl Gefangener hatte versucht, durch Verschlucken verdünnter Säuren und verringerte Nahrungsaufnahme sich „schweizreif“ zu machen und so dem traurigen Schicksal der Gefangenschaft zu entrinnen. Einigen gelang es in der Tat, andere blieben trotzdem zurück und hatten an den Folgen der Verwüstung des eigenen Körpers noch schwer zu tragen. In dieser Zeit aber erreichten alle Schikanen ihren Höhepunkt.

Wir waren der Verzweiflung nahe als am achtzehnten August der Befehl gegeben wurde, um Mitternacht aufzustehen und uns marschfertig zu machen. Wie während unseres Aufenthalts die bretterverschlossenen Fensteröffnungen, so sollte auch beim Abmarsch die tiefdunkle Nacht die boches den Blicken der Uzèser Einwohner entziehen.

Brest

Quer durch Frankreich

Freitag, am achtzehnten August 1916 um Mitternacht bläst es Alarm. Wir erheben uns vom Lager, kleiden uns beim dürftigen bläulichen Schein des Nachtlämpchens an, müssen die Strohsäcke auf dem Hof entleeren und die Kaserne ausfegen. Es ist ein geisterhaftes Gewimmel von schwarzen Schatten in dunkler Nacht, aus der wie Schemen die bleichen Gesichter der Gefangenen auftauchen und wieder verschwinden. Wir haben uns selbst einen Rucksack genäht, haben Decke und Kochgeschirr aufgepackt und stehen während einiger Stunden im nachtdunklen Hof der Kaserne, wo wir von lampenschwingenden Korporalen gezählt und in Gruppenkolonnen aufgestellt werden. Als es leise zu tagen beginnt, wird das Kasernentor geöffnet. Auf der Strasse vor der Kaserne ist es totenstill. Häusergiebel treten gespenstisch aus dem Zwielicht hervor. Wir setzen uns in Marsch. Als ich aus dem Torgewölbe marschiere, muss ich tief aufatmen. Jetzt klappern unsere Stiefel auf dem holperigen Pflaster von Uzès. Aus den Fenstern einiger Häuser dringt Lichtschein und neugierige Gestalten im weissen Hemd zeigen sich in den Fensterrahmen. In tiefes Schweigen gehüllt, zwischen Nacht und Tag, bewegt sich unser Zug langsam vorwärts. Als wir auf dem Bahnhof ankommen, bricht der Tag an.

Wir mussten etwa zwei Stunden warten und wurden unterdessen einige Male abgezählt. Dann kam der Kommandant, hoch zu Ross und ritt zwischen unseren Reihen hindurch. Eine Lokomotive keuchte heran, wurde an die Wagen gekuppelt, dann begann die Verladung in die bereitstehenden Wagen. Ich hatte mit meinen Kameraden das Glück, einen guten Wagen dritter Klasse zu erwischen. Es dauerte eine gute Weile, bis sich der Zug schwerfällig in Bewegung setzte. Wie ungewohnt war doch das Wiegen und Schaukeln eines Wagens. Der Zug fuhr durch das zerklüftete, waldreiche Bergland der Cevennen, durch Dutzende von Tunnels, in denen uns der Lokomotivenqualm fast den Atem benahm. Die Fahrt ging weiter über Brioude, Poitiers, Tours, Le Mans, Rennes nach Brest und dauerte vier Tage, bis zum Dienstag, den zweiundzwanzigsten August. Ich brauche wohl kaum zu sagen, dass ich buchstäblich gerädert ankam. In der Touraine fielen mir die ausgedehnten Weizenfelder auf, in denen zum Teil kriegsgefangene deutsche Soldaten arbeiteten. Wie weit weg war der Krieg! Einmal während der Fahrt hielt unser Transport neben einem Zug, der mit französischen Truppen besetzt war, die von der Front zurückkehrten. Sie schienen grossenteils betrunken und schimpften herüber, einer schlug in unserem Abteil eine Scheibe ein.

Ueber die in unserem Abteil befindlichen Wachmannschaften konnten wir uns nicht beklagen. Da sass neben mir ein reitender Jäger, mit dem ich ins Gespräch kam. Wir kamen auf die wirtschaftlichen Gründe zu sprechen, die zum Kriege geführt hätten und ich nannte als Triebfeder den Neid Englands, auch erwähnte ich dabei, dass sich die Franzosen viel früher vom Geschäft zurückzögen als dies in Deutschland der Fall sei. Ja sagte er, das alles ist nicht die Ursache sondern erst Folge, und zwar die Folge des für uns unglücklichen Frankfurter Friedens: „Wahrend Deutschlands Kräfte durch den siegreichen Krieg sich vervielfachten, steht Frankreich bis heute unter dem Eindruck jener Niederlage. Die Aenderung des Frankfurter Friedens ist für uns das Hauptziel des Krieges. Und wir haben die Uebermacht. Gewiss haben unsere Armeen noch nicht die Entscheidung errungen, aber warten Sie ab! Die Zeit arbeitet für uns. Die englische Armee steckt erst noch in ihren Anfängen. In Mazedonien droht Ihnen schwere Gefahr und in einigen Tagen werden Sie die Kriegserklärung Rumäniens erleben. Glauben Sie wirklich, dass Ihr Verbündeter, Oesterreich-Ungarn, aushalten kann?“

Ich: „Ich bin überzeugt, dass wir die Westfront gegen alle Angriffe halten und auch Einbussen auf der Ostfront, wie bei der Brussiloff-Offensive verschmerzen können. Die Kraft der Alliierten wird aber durch ihre Offenssiven so geschwächt, dass es ihnen eines Tages unmöglich sein wird, noch einen entscheidenden Erfolg zu erzielen. Unterdessen aber stehen wir im Feindesland und halten Pfänder in der Hand.“

Der Jäger schwieg lange, dann sagte er: „Wir haben genug vom Krieg wie Sie, aber es ist noch nicht Zeit zum Frieden. Wenn aber unsere Zeitungsschreiber da hinten wie wir in dem Dreck der Schützengräben sitzen würden, schrieben sie andere Artikel.“ Es war die erste kritische Aeusserung über die eigene Presse, die ich von einem Franzosen hörte. Bisher hatten die französischen Soldaten, die wir kannten, als Beweis immer bloss die Zeitung angeführt. In Le Mans hatten wir Wagenwechsel. Blutjunge Bürschchen von Soldaten hielten den Bahnhof abgesperrt. Wir mussten aussteigen und in einem anderen Wagen Platz nehmen. „Elsass-Lothringen IV Klasse“ stand darauf. Wir hatten Glück, denn in unserem Wagen war wenigstens ein Abort. Uebermüdet, legte ich mich mit einigen Kameraden auf den Fussboden und schlief ein, trotzdem die Wagenstösse die Köpfe an die Wände klopfen liessen.

Am vierten Tag unserer Reise kamen wir nachmittags müde, zerschunden und hungrig in Brest an. Unser Zug hielt während einiger Stunden auf einem Nebengeleise, dicht bei einer in vollem Betriebe befindlichen Sprengstoffabrik. Endlich fuhr er zum Hafen hinunter und hielt auf einem entlegenen Hafenkai. Einige bewaffnete Handelsdampfer fielen mir sofort ins Auge, die Geschütze waren achtern auf hohen Plattformen aufgestellt. Beträchtliche Stapel von Munition, in Holzkisten verpackt, standen auf dem Kai und wurden von Soldaten in die bereitstehenden Güterwagen verladen. Wir mussten aussteigen, wurden abgezählt und an Bord eines Schleppers gebracht, der aus dem abgemauerten Innenhafen in die weite Bucht hinausfuhr. Wie Zacken einer Krone tauchen auf allen Seiten steile Höhenrücken ins Wasser ein und teilen die grosse Bucht in eine Reihe kleiner Buchten. Warm glänzte die Sonne auf dem Wasserspiegel. Die Felsen waren von der See zernagt, doch auf ihren Rücken wölbten sich sanftgeschwellte grüne Wiesen. Unser Boot pflügte zitternd eine breite Furche durch die glatte Fläche. Wir steuerten auf eine schroff aus dem Wasser ragende Insel zu. Auf ihrem gestrüppbewachsenen Rücken unterscheiden wir alte Festungswerke, die sich scharf gegen den Horizont abheben. Plötzlich stürmt aus ihnen eine Schar Menschen mit Rufen, Hut- und Tücherschwenken heraus und eilt den steilen Hang zur Anlegestelle herunter. Es sind Gefangene von Ile Longue. Wir sind am Ziel.

Wir werden ausgebootet und sehen mit Staunen, dass die Ile Longuer Gefangenen ganz braungebrannt aussehen, dass sie ordentlich gekleidet sind, richtige Hüte, Mützen, ja sogar buntfarbige Klubmützen tragen. Und da stehen wir mit unserer lächerlichen, militarisierten Kleidung, mit der Hanswurstmütze aus alten Lappen auf dem Kopf und empfinden beim Anblick unsere alten Kameraden tiefe Scham über die Zeichen demütigender Erniedrigung, die man uns im Lager Uzès zugemutet hatte.

Île Longue – Warten auf Post / Attente du courrier
Île Longue – Unsere Gärten / Notre jardin
 dahinter von uns gebauter Sportplatz

Kaum haben wir festes Land erreicht, da reissen wir rote Streifen, Nummern, PG und Mützen herunter und werfen sie ins Wasser. Unser Gepäck wird ausgeladen und den steilen Weg zur Insel hinaufgeschleppt, wobei uns unsere Kameraden, die uns freudig begrüssen, helfen. Wir durchschreiten einen breiten Drahtverhau, hinter dem sich niedrige Bretterhüten ausdehnen. Primitive Steindämme durchziehen als Gehwege das Lager.

In Trupps aufgeteilt geht es durch das Lager, dessen schiefwandige Baracken recht verwittert aussehen. Vierunddreissig Mann stark, werden wir in eine der fünf Meter breiten, zwanzig Meter langen, archenähnlichen Baracken gelegt.

An jeder Schmalseite ist eine Türe mit der Barackennummer. Ein bretterbelegter Durchgang trennt die Baracke in zwei Hälften. Rechts und links vom Gang ziehen sich fortlaufende Pritschen durch die Baracke, welche dazu bestimmt waren, als Unterlage für den Strohsack zu dienen. Fünf Luken, welche durch Klappfenster zu verschliessen waren, in jeder Seitenwand, warfen ein spärliches Licht in das Innere. Weder Tisch noch Stuhl war vorhanden. Die Beleuchtung bestand aus einer einzigen Stallaterne, welche Abends mitten in die Baracke gehängt wurde. Wir stellten fest, dass es sich um ein deutsches Fabrikat handelte. Ich hatte grossen Hunger, daher freute es mich als ich von einem alten Ile Longuer, den ich von früher her kannte, eingeladen wurde. Wie aber erstaunte ich als ich die Baracken der schon lange in Ile Longue Weilenden betrat. Da waren Gefangene von der „Nieuw Amsterdam“. Sie hatten die grosse Baracke mit Sackleinwand in kleinere Räume abgeteilt und diese mit Tapeten ausgeklebt. Tisch und Stühle hatten sie sich verschafft. An den Wänden hingen Bilder, Gardinen am Fenster.

Île Longue – Dorf Fret 1 / Village « Le Fret 1 »
Île Longue – Dorf Fret 2 / Village « Le Fret 2 »

Klapp- und Doppelbetten erlaubten eine günstige Platzausnützung. Eine Schiebetüre schloss den Eingang. Welch ein Gegensatz zu Uzès, wo man uns alle Sitzgelegenheiten und Tische weggenommen hatte. Nachdem wir befehlsgemäss unsere Strohsäcke umgetauscht hatten, suchten wir vergebens nach einer Waschgelegenheit. Da erfuhren wir, dass Wasser sehr knapp sei. Wir erhielten dann noch eine dünne Wassersuppe verabreicht, machten unser Nachtlager zurecht und legten uns frühzeitig schlafen. Uebermüdet von der langen anstrengenden Fahrt fiel ich alsbald in einen tiefen traumlosen Schlaf.

Ile Longue

Wie soll ich den Eindruck beschreiben, als ich innerhalb des Stacheldrahts zum ersten Mal ums Lager ging, ohne dass der Blick nach draussen durch Mauern abgeschlossen war. Wieder einmal Wasser, Feld und Hügel zu sehen, hatte für mich etwas Erschütterndes. Ich vergass die Zeit und schaute über den Zaun hinaus in die Bucht, in die Schiffe ein und ausfuhren, in das Grün der benachbarten Felder, an deren Ende die Giebel einiger Bauernhöfe in die Luft ragten. Ich konnte mich in den ersten Tagen nicht sattsehen an der Natur, am Abend, wenn die Wolken von den letzten Strahlen der scheidenden Sonne durchglüht wurden. Doch dann stieg wieder die Sehnsucht auf nach der Heimat, nach der Welt jenseits des Stacheldrahts. Da flammten bei Einbruch der Nacht drüben weit über der Bucht die Lichter von Brest auf und lockten.

Île Longue – Lagerstrasse / Rue de camp

Freilich, man war rasch an die neuen Eindrücke gewöhnt und verlangte nach Neuem. Aber da war doch ein gewaltiger Unterschied zwischen unseren früheren Lagern und dem neuen. Da hatten z.B. die Gefangenen mit viel Mühe und Kosten einen Sportplatz gebaut und das war ein Segen für das ganze Lager. Nun konnten wir doch einmal den Körper in frischer Luft tummeln. Der Platz war in der Tat vom frühen Morgen bis zum späten Abend in Benützung. Nicht weniger als vier Fussballvereine und drei Hockey-vereine, jeder mit zahlreichen Mannschaften, Faustball und Schlagballmannschaften teilten sich in den Platz. Ein Turnverein sorgte für Geräte und Bodenturnen. War ein grosses Spiel angesagt, und es wurden ganz erstklassige Leistungen gezeigt, so war das Sportfeld von Hunderten von Zuschauern umlagert, die den Gang der Spiele lebhaft begleiteten. Der Sportplatz wurde morgens geöffnet und diente den etwa 2000 Zivilgefangenen als Gelände für den Morgenspaziergang. Ich machte selbst jeden Morgen meine Runden, soweit ich nicht mich selbst an einem Morgenspiel beteiligte und mich darauf schon vorbereitete.

Verwundert hörte ich bei einem Gang durch die Baracken eine Frauenstimme singen. Ich stand still und trat näher, da merkte ich dass ein Grammophon in einer Baracke spielte. Also auch das gab es! Da war aber auch noch ein Streichorchester von den Gefangenen zusammengestellt worden, das ganz vorzügliche Konzerte gab. Wir waren ja so hungrig auf alles, was an Zivilisation erinnerte. Vor allen Dingen war wohltuend, dass man uns den Tag über in Ruhe liess. Mit den stündlichen Schikanen wie in Uzès war es endlich aus.

Nur zweimal am Tage, morgens und abends fand Appell in der Baracke statt. Dagegen vermehrte sich nun die Zahl der Arbeitskorveen dadurch, dass alles, was auf die Insel kam, Lebensmittel und sonstiger Bedarf aus dem Dampfboot ausgeladen und auf die Insel heraufgeschleppt werden musste, eine Arbeit, die bei Sturm und Regenwetter sehr beschwerlich war.

Unser Lager unterstand dem Ministerium des Innern. Die Ordnung innerhalb des Lagers wurde daher nicht durch Soldaten oder Gendarmen, sondern durch sogenannte „surveillants“ vorgenommen, die wir wegen ihres hohen Alters „Weihnachtsmänner“ nannten. Sie trugen eine dunkelblaue Uniform und Mützen, die in rot die Buchstaben MI (Ministère Intérieur) trugen. Sie wollten von uns gar nichts und waren zufrieden, wenn man sie selbst in Ruhe liess.

Sie machten sich einen hübschen Nebenverdienst mit Tabaktrafik u.a. In kurzer Zeit hatten sie natürlich Spitznamen, wie „Tod von Ypern“, „Leiche auf Urlaub“, „Mistigel“ u.a. Die Bewachung ausserhalb des Lagers erfolgte durch Soldaten die in geräumigen Baracken ausserhalb des Lagers untergebracht waren. Unsere erste Arbeit war, wie wir es gesehen hatten, in der Baracke einen kleinen Raum abzuteilen, mit Sackleinwand Wände zu ziehen und Bettgestelle zu bauen.

Wir nahmen einen vierten Mann in unsere Kochgruppe auf und bekamen so genügend Platz, um zwei kleine Räume abzuteilen. Das eine Abteil richteten wir als Schlafzimmer ein mit zwei Etagenbetten, das andere als „Wohnzimmer“.

Den gespannten Rupfen überzogen wir mit Tapeten, schmückten das Innere mit Bildern, zimmerten ein Bücherbrett, einen Tisch und liessen uns von einem gefangenen Schreiner bequeme Stühle bauen. Unsere alte, gute Casabiankakiste hingen wir auf. Sie diente als Speiseschrank.

Heimlich sägten wir in der Höhe der Schlafkoje ein Fenster in der Barackenwand aus, wie wir dies bei anderen Baracken gesehen hatten und obgleich dreissig Tage cachot darauf standen. Bald nach unserer Ankunft begann im ganzen Lager ein Sägen, Hämmern, Klopfen, denn jeder von uns wollte die unwohnlichen Baracken wohnlicher gestalten. Eine Ausnahme machten die Türken, Griechen, Polen und Tschechen, die mit dem von den Franzosen Gebotenen fürlieb nahmen. Bald nach unserer Ankunft in Ile Longue wurden die Tschechen aus dem Lager entfernt. Für je drei, später vier Baracken wurde in einer Küche gekocht. Waren die Essensrationen an sich auch kleiner als in Uzès, so war doch vor allem der Hauptbestandteil unserer Nahrung, nämlich die Kartoffeln, gar gekocht. In den ersten Tagen unserer Ankunft erhielten wir reines Weizenbrot. Es schmeckte wie Kuchen, doch wurden wir nicht satt davon, bald jedoch wurde es dunkler mit allerlei Zusätzen gebacken und kam oft durchnässt, zerbröckelt und schimmelig zur Ausgabe.

Es bestand immer ein gewisser Mangel an Brot im Lager, dann, nur kurze Zeit war ein recht beschränkter Brotverkauf in der Kantine gestattet. Zucker wurde nie geliefert, ihn vermissten wir schmerzlich. Im Winter 1916-17 durften wir durch die Kantine zweimal in der Woche Fleisch und Gemüse bestellen.

In der kahlen Kantinenbaracke konnten wir einige der nötigsten Nahrungsmittel, wenngleich nicht immer kaufen. Im Ueberfluss gab es jedoch dünnes Bier und schlechten Rotwein. Etliche der Kameraden trösteten sieh mit Wein und hatten es schwer zu büssen. Die Preise in der Kantine erhöhten sich stetig. Vom Jahre 1917 ab durften nur noch Kranke Gemüse kaufen, wozu sie einer ärztlichen Erlaubnis bedurften. Die Lage wurde im Jahre 1918 und 1919 besonders dadurch erschwert, dass der Kurs für die deutsche Mark rapid fiel, so dass man nach Ausbruch der Revolution von 1918 in Deutschland für Rm. 100,— kaum noch frs. 50,— bekam.

Île Longue – Küche / Cuisine

Während wir damit beschäftigt waren, uns in dem neuen Lager einzurichten, setzten uns die politischen Nachrichten schwer in Sorge. Am 28. August folgte die Kriegserklärung Rumäniens an die Mittelmächte und wenige Tage später rückten die feindlichen Truppen in Siebenbürgen ein. Die Ueberschriften in den französischen Zeitungen überschlugen sich jetzt vor Siegeszuversicht: „Zusammenbruch der Mittelmächte!“ war das Thema. Da aber sollte sich das Blatt entscheidend wenden. Die Bulgaren stiessen in die Dobrudscha vor, Turtukai, Silistria, endlich im Oktober Constanza fielen in unsere Hände. Doch die Entscheidung kam überraschend von anderer Seite. Bei Hermannstadt schlug die Armee Falkenhayn die Rumänen entscheidend. Dann folgten die schweren Kämpfe um den Besitz der Uebergänge über die Transsilvanischen Alpen.

Rasch und tödlich fiel der Schlag beim Vulkanpass und nun drangen wie ein reissender Giessbach die deutschen Truppen bis Targu Jiu vor und in raschem Siegeslauf nach Craiova und durch die Wallachei. Ueberraschend folgte Mackensens Donauübergang und am 6. Dezember 1916 fiel Bucarest in unsere Hände, was in unserem Lager stürmischen Jubel hervorrief.

Das neue Jahr sah unsere Truppen nach dem Fall von Braila am Sereth stehen.
Auf dem westlichen Kriegsschauplatz rannten unterdessen Monat für Monat Franzosen und Engländer gegen die an der Somme vergeblich gegen die deutschen Stellungen an. Was schien es dagegen zu bedeuten, dass uns vor Verdun Vaux und Douaumont wieder verloren gingen. Die gegnerischen Teilerfolge schienen uns keine Aenderung der strategischen Lage herbeiführen zu können.

Man wird leicht verstehen, dass die nunmehr schon jahrelange Gefangenschaft und die Aussicht, dass der Krieg noch lange dauern konnte, das Bedürfnis nach Unterhaltung im täglichen Einerlei hervorrief. Da unter den Gefangenen musische Kameraden waren, so wurde bei den Franzosen die Erlaubnis, Theater zu spielen, eingeholt. Im Frühjahr 1917 wurde uns die Erlaubnis dazu gegeben. In einer der leerstehenden sogenannten Adrianbaracken zogen also nun die Musen ein. Es wurde eine Bühne aufgeschlagen, Holz, Pappe, Leinwand, Farben wurden in Brest gekauft. Gespannt wartete man auf die Erstaufführung, die „Alt Heidelberg“ auf die Bretter brachte. Der Erfolg war vollkommen. Die Inszenierung war ausgezeichnet und verbesserte sich im Lauf der Zeit zusehends, als verschiedene Künstler bei der Herstellung der Bühnenausstattung in Wettbewerb traten. Sehr schwierig gestaltete sich die Beleuchtungsfrage, da für die Petroleumlampen nie genügend Petroleum zur Verfügung stand. Die Veränderung der Lichtstärke auf der Bühne wurde zum Beispiel dadurch bewirkt, dass ein fein konstruierter Drahtzug die vor der Bühne in einer Reihe aufgestellten Dochtlampen zu gleicher Zeit herauf- oder herunterschrauben konnte. Die von Fachleuten und talentierten Laien hergestellten Bühnenmöbel wirkten täuschend elegant. Statt teurer Stoffüberzüge diente bemalter Rupfen und schaute täuschend echt aus.

Anfangs glaubte man, dass unser Theater mangels weiblicher Schauspieler einen baldigen Schiffbruch erleiden müsse. Doch bald sollten wir erfahren, dass unsere Besorgnis umsonst gewesen war. Im Laufe der Zeit wurden Damenrollen von besonders befähigten Kameraden so täuschend wiedergegeben, dass Stücke, in welchen an eine Schauspielerin grosse Ansprüche gestellt wurden, nicht mehr zu scheuen waren, Schminke und Perücken hatten wir aus der Heimat erhalten und die Schneider des Lagers konnten allen Ansprüchen gerecht werden. Unsere Spieler aber fanden im Lager nicht weniger Bewunderung, als sie der Heldendarsteller, der Liebhaber, die Naive zu Hause finden. Ja sie selbst waren auf ihre Rollen stolz, bald waren sie auch eifersüchtig auf Rollen und bald gaben sie auch bösen Zungen im Lager reichen Stoff zum Klatsch. Aus der Reihe der gespielten Stücke führe ich an: „Die versunkene Glocke, Ehre, Heimat, der Biberpelz, Moral, Traumulus, Taifun, erster Klasse, der Geburtstag“.

Die Vorstellungen begannen nachmittags um 16 1/2 und waren bis zum Abendappell zu Ende. Die Eintrittskosten betrugen ffrs. 1,— und 60 cents pro Person, was in Anbetracht der hohen Auslagen für Material sehr billig war.

Wie viel Anregung und Gesprächsstoff gab uns unser Theater.

Wie freuten wir uns auf jedes neue Stück, Darsteller und Stück wurden eingehender Kritik unterzogen. Wie in einem schönen Traum wickelte sich das Geschehen auf der Bühne ab. Eine neue Welt tat sich vor uns auf, die jäh zu Ende war, wenn, wir bei Einbruch der Dämmerung in die lichtlosen dumpfen Baracken zurückpendelten und uns auf die dünnen zerquetschten Strohsäcke fallen liessen.

Zur gleichen Zeit, als das Theater eröffnet wurde, erhielten wir auch die Erlaubnis zum Druck einer Lagerzeitung, die vor ihrer Ausgabe vom französischen Dolmetscher zensiert werden musste. Sie wurde auf Eiweisspapier von Hand geschrieben und im Steindruckverfahren vervielfältigt. Jeweils am Samstag erschien sie. Ihr Inhalt berührte alle Gebiete, ausgenommen politische. In erster Linie war natürlich dem Lagerleben ihr Inhalt gewidmet. Sie berichtete über Theater, Sport, Turnen, Gartenbau, der in wenigen Quadratmetern Erde zwischen den Baracken getrieben wurde, über Bücher. Eine Wochenchronik mit humoristisch-satyrischem Inhalt vervollständigte die Zeitung. Da es Kameraden gab, welchen der Humor verlorengegangen war, so gab es wegen der Chronik Krach, der bis in Tätlichkeiten ausartete. Wir waren ganz froh an unserer „Inselwoche“, bis sie nach fünfzehnmonatigem Bestehen ihr Erscheinen einstellte. Sie hatte sich, wie alles in so langer Zeit, überlebt. Da aber erblickte ein neues Organ „Die Kehrseite“ das Tageslicht auf der Insel. Wie die Schriftleitung in der ersten Nummer ausführte, sollten nur „originelle Ideen“ Aufnahme in diesem Intelligenzblatt finden. So originell aber waren diese Ideen, dass sie von den Lesern gar nicht verstanden wurden. Auch ich bestellte die Zeitung aus Gesundheitsrücksichten ab und bald starb sie einen schmerzlosen, von wenigen beweinten Tod. Nach der Revolution erschien ein „Volkstimme“ im Lager, die über die harten Friedensbedingungen der Entente berichtete und die wegen Papiermangels bald einging.

Wieder dehnten sich die Monate der Gefangenschaft auf Ile Longue zu Jahren. Während des Sommers 1917 wurde das Essen ungeniessbar. Täglich gab es Suppe aus muffigen Bohnen und Reis voller Würmer und Käfer. Viele der Kameraden litten an Magen- und Darmkrankheiten. Ein Segen waren die Holzkohlenöfen, auf denen wir uns wenigstens selbst etwas kochen konnten.

Was uns immer wieder aufrichtete, uns immer wieder Mut und neues Hoffen schenkte, war der Gedanke an unsere Tapferen an den Fronten. Auch im dritten Kriegsjahr hielt die Westfront gegen die furchtbaren Angriffe der Alliierten. Erleichtert atmeten wir auf, als am Ende des Jahres 1917 der Widerstand der Russen gebrochen war und auch die von Italien drohende Gefahr durch unser Vorstossen bis zur Piave beseitigt war. Was uns allen grosse Sorge bereitete, waren die Berichte der französischen Zeitungen über die Ernährungsschwierigkeiten in Deutschland sowie der häufige Wechsel in der Leitung des Reiches. Es schien uns unmöglich, dass der Eintritt der Vereinigten Staaten in den Krieg den Ausfall der Russen wettmachen könne. Im Dezember 1917 konnten wir im Brester Hafen eine überaus rege Tätigkeit feststellen. Transporte amerikanischer Truppen trafen ein und folgten sich mit erschreckender Regelmässigkeit.

Wie wir hörten, war Brest eine der amerikanisehen Festlandsbasen in Europa. Alle acht Tage kam ein ungeheurer Schiffszug in der Bucht von Brest an. Es schnürte uns das Herz zusammen, wenn wir sehen mussten, wie die von den Amerikanern beschlagnahmten, schönen deutschen Schiffe, grau übermalt, mit fremden Truppen vollgestopft in die Brester Bucht einfuhren. Abgeschnitten durch den Stacheldraht mussten wir Zusehen, wie zehntausende von Feinden, mit schmetternder Musik empfangen, deren Klänge der Nachtwind leise nach unserer Insel herüberwehte, an Land gesetzt wurden, um gegen unsere Brüder zu kämpfen.

In tödlicher Starre ging der Winter vorüber.

Wir sassen ohnmächtig hinter den Kulissen des Welttheaters, auf dessen Bühne sich der letzte blutige Akt des Dramas abspielen sollte. In den Baracken fehlte es an Licht, an Heizung. Stumpf und apathisch lagen wir auf den Strohsäcken, ein Buch in der Hand, über das hinweg der Blick immer wieder ins Leere schweifte. Wurde die Kälte unerträglich, so eilten wir auf den Sportplatz und umkreisten ihn im Geschwindschritt, um warme Füsse zu bekommen. Aber auch darauf mussten viele Gefangene verzichten, weil sie kein ordentliches Schuhzeug mehr besassen.

Île Longue – Raumkunst in der Baracke / Aménagement artistique de la baraque
Île Longue – Kameraden 1914 - 1919 - Fitje und Hahn / Fitje et Hahn

Tagebuch aus Ile Longue

Montag, 21. Mai 1917.

Ich will wieder ein Tagebuch führen.

Ich will es tun, um eine Erinnerung zu haben an eine für mein Vaterland entscheidende Zeit, eine Rechtfertigung für mich selbst, der ich untätig in französischer Gefangenschaft hinter Stacheldraht schmachten muss. Immer sind unsere Gedanken bei den tapferen Truppen draussen im Feld. Unsere eigene Schmach wollen wir geduldig ertragen, wenn nur unser Heer siegt. Allerlei Menschen gibt es in unserem Lager. Es gibt Schwächlinge und starke Menschen. Charaktere werden nicht improvisiert. Sie zeigen sich da, wo Ernst, Pflichtgefühl und hartes Ringen ist.

Seit drei Wochen haben wir den schönsten Sonnenschein. Gegen das Dorf zu prangen die Wiesen in saftigem Grün, die Bäume schlagen aus. Auf der anderen Seite des Lagers, jenseits des Stacheldrahts, blüht der Ginster in sattem Gelb. Auf der Brester Seite liegt der Höhenrücken wie ein Riegel vor der Brester Bucht. Abends steht die Sonne wie eine blutrote Scheibe auf ihm und wirft einen zarten Rosaschimmer auf das Wasser. Langsam versinkt sie hinter der Höhe und lässt den roten Widerschein in dem zerrissenen Wolkenschleier des Himmels spielen.

Die Röte verliert sich allmählich und wandelt sich in ein sattes Gelb, das sich auch im Wasser widerspiegelt. Dann legt sich die Dämmerung über Berge und Hügel. Als dunkle, unförmige Massen ragen sie aus dem Meeresspiegel.

Dienstag, 22. Mai 1917.

Strömender Regen trommelt auf die Barackendächer und lässt mich lange nicht einschlafen.

Das Essen ist miserabel. Die Franzosen verabreichen uns muffige Bohnen und Reis voller Würmer, so dass einem der Appetit vollend ganz vergeht. Heute gibt es keine Zeitung, weil Dienstags und Freitags das Fährboot wegen Kohlenmangels nicht zur Insel fährt. Abends kommt ein scharfer Wind auf, der mich vor Kälte zusammenschauern lässt.

Mittwoch, 23 Mai 1917.

Nach einer Nacht mit rauschendem Regen zieht ein sonniger Tag herauf. Der Wind nimmt gegen Mittag zu und bringt dicke Regenwolken herbei, die den Himmel mit trostlosem Grau überziehen.

Die französische Zeitung berichtet über die glückliche Rückkehr des Marschalls Joffre aus den Vereinigten Staaten.

Donnerstag 24. Mai 1917. 958. Tag.

Die Gefangenen haben alle die spärlichen freien Plätzchen im Lager bepflanzt. Es handelt sich immer nur um einige Quadratmeter, aber wie viel Liebe und Sorgfalt wird auf sie verwendet. Es wurden Radieschen, Erbsen, Kartoffel, Gurken gesät bzw. gesetzt. Der Volksmund spricht schon von Rittergütern.

Samstag, 26. Mai 1917. 960.Tag.

Die warme Mainacht liess mich nicht schlafen.

Ein fast sommerlich schwüler Tag zog herauf. Die Frühbeete spenden schon Radieschen. Etwa neunzig neue Gefangene treffen ein, die auf die leeren Baracken verteilt werden. Für drei Francs kaufe ich mir im Hilfsverein ein Paar Segeltuchschuhe.

Pfingstmontag, 28. Mai 1917. 962.Tag.

Der Lagerdirektor gibt bekannt, dass keine Pakete mehr mit Lebensmitteln und Tabak an die .Gefangenen ausgegeben werden, weil Deutschland auch keine solchen mehr zulasse.

Wie wir aus durchgeschmuggelten deutschen Zeitungen erfahren hatten, sollen französische Gefangene in Deutschland Anweisungen in Paketen zum Zerstören der deutschen Ernte erhalten haben.

Mittwoch, 30. Mai 1917. 964. Tag

Das Wetter ist kalt und unfreundlich. Ich habe die Nacht unruhig geschlafen und fühle mich unendlich müde.

Gegen Mittag fahren fünf Torpedoboote in den Hafen, denen vier anscheinend nicht beladene Dampfer folgen.

Im Lager herrscht grosse Aufregung wegen einer Zeitungsnotiz über Gefangenenaustausch. Danach soll Mann gegen Mann ausgetauscht werden. Überall keimt wieder Hoffnung.

Freitag, 1. Juni 1917. 966. Tag.

Draussen in der Bucht liegt ein als U-Bootsfalle verkleidetes Torpedoboot. Es ist jedoch so plump getarnt, dass, es sogar uns auf den ersten Blick auffällt.

Samstag, 2. Juni 1917. 967. Tag

Bohnen und Reis aus der Franzosenküche sind muffig und voller Würmer. Wir kochen daher auf unserem Öfchen und machen mal wieder Pfannkuchen mit Salat.

Sonntag, 3. Juni 1917. 968. Tag.

Leuchtend zieht die Sonne herauf und giesst ihre Strahlen über das Land. Sie leuchtet in unser armes, gefangenes Herz hinein und gibt uns Trost. Jenseits des Stacheldrahts stehen die Wiesen in saftigem Grün. In dunkelblauem Glanz leuchten die Gewässer der Brester Bucht im braunen Kranz der Felsen. Deutlich kann man auf ihrem Rücken die grünen Rasenflächen erkennen. Weit in der Ferne drehen sich die Flügel einer Windmühle munter im säuselnden Winde.

Abends sassen wir im Kreis vor der Baracke im Sonnenschein und sprachen von der Heimat.

Montag, 4. Juni 1917. 969. Tag

Warmer Sommertag. Wohl der bisher schönste des Jahres.

Die Luft ist ganz still. Heiss brennt die Sonne herab. Mittags lege ich mich in das Spärliche Gras auf den Rücken und sehe nichts als blauen Himmel, blaues Wasser und am Himmelsrand kleine, liebe weisse Wölkchen. Ganz ruhig wird es in mir. Vergessen ist all das Schwere, das mich sonst bedrückt.

Zwischen dem Gras gackert und hastet das junge Hühnervolk, die Nachkommen jenes ersten Inselgeschlechts, das in der Brutkiste mit der Petroleumlampe aus frischen Eiern grossgezogen wurde.

Leuchtend geht am späten Abend die Sonne zur Ruhe und lässt abschiednehmend noch lange ihren blutroten Widerschein auf den Wassern der Bucht zurück.

Prächtiges warmes Sommerwetter. Ich gehe in Hemd und Kniehose.

Die von der Franzosenküche verabreichten Bohnen sind voller Würmer. Es herrscht grosse Erbitterung unter den Gefangenen. Beschwert man sich beim Kommandanten, so heisst es: „Es ist kein Proviant da“ oder „Bei Ihnen bekommen unsere Gefangenen auch nichts Besseres.“

Der warme Sommerabend hält noch alle Gefangenen ausserhalb der Baracken. Der rotgelbe Mond hängt wie eine Papierlaterne am dunklen Abendhimmel.

Donnerstag, 7. Juni 1917. 972. Tag.

Es herrscht grosser Wassermangel im Lager. Morgens ist innerhalb einer halben Stunde das ganze Wasser in den Behältern verbraucht. So können sich viele Gefangene kaum waschen. Wir lassen schon abends das Wasser in Eimern an der Pumpe holen, damit wir morgens nicht in Verlegenheit sind.

Nach dem Aufstehen mache ich einen Spaziergang dem Drahtzaun entlang ums Lager. Zwischen dem Verhau wuchert üppig Gras, Farrenkraut, Ginster und Dotterblümchen. Ein würziger Duft steht in der Luft.

Der kleine Kreuzer mit den zwei Schornsteinen, der einige Tage in der Bucht lag, ist heute nicht mehr zu sehen.

Die französische Kammer hat über die Kriegsziele abgestimmt. Mit überwiegender Mehrheit, nur gegen die Stimmen der Sozialisten verlangt sie die Abtretung von Elsass-Lothringen. Entschädigung für die im Lande verursachten Verheerungen, Beschneidung der deutschen Wehrmacht. Frankreich lässt die Katze aus dem Sack!

Das schöne Wetter lockt uns aus den Baracken heraus und das ist gut so. Bald wird wieder Regen kommen, dann müssen wir Tag für Tag in den finsteren Unterkünften sitzen.

Freitag, 8. Juni 1917 973. Tag.

Während der Nacht haben mich die Flöhe geplagt.

Die Brester Dépêche berichtet, dass die Engländer Wvtschaete und Messines genommen und 5000 Gefangene gemacht haben. Die italienische Kammer beschliesst das Protektorat Italiens über Albanien.

Samstag, 9. Juni 1917. 974. Tag.

Gestern habe ich alle meine Schlafdecken mit Insektenpulver eingestreut. Daraufhin habe ich heute Nacht gut geschlafen. Beim letzten Fussballspiel habe ich einen schweren Schlag aufs Schienbein abgekriegt und muss nun zu meinem Leidwesen mit Sport aussetzen.

Mittwoch, 13. Juni 1917. 978. Tag.

Schönes Wetter, jedoch viel Wind. Unsere schadhaften Barackendächer werden neu geteert. Butter und Gemüse dürfen von jetzt an nicht mehr an uns verkauft werden.

König Konstantin dankte zu Gunsten seines Sohnes Alexander ab. Die Alliierten rücken in Thessalien ein. Die Italiener gehen gegen Prevesa vor. Nun hat es die Entente in Griechenland doch so weit gebracht. In Russland wurde Brussiloff zum Oberkommandierenden der Armee ernannt.

Donnerstag, 14. Juni 1917. 979. Tag.

Gestern sind 75 Tonnen Kohle für das Lager angekommen. Alle Gefangenen müssen ausladen helfen.

Freitag, 15. Juni 1917. 980. Tag

Ein heisser Tag. Das Madrider ABC kommt ins Lager. Danach haben die Deutschen im Monat April 1 091 000 Tonnen Handelsschiffe versenkt.

Montag, 18. Juni 1917, 983. Tag.

Als Repressalie werden jetzt keine Pakete aus der Heimat mehr den Gefangenen ausgeliefert. Ich las heute Carlyle’s Friedrich der Grosse zu Ende.

Dienstag, 19. Juni 1917. 984. Tag.

Der „Berner Bund“ wird regelmässig ins Lager geschmuggelt. Er bringt ganz vorzügliche Artikel von Stegemann.

Mittwoch, 20. Juni 1917. 985. Tag.

Die Flöhe liessen mich nachts nicht schlafen. Der Morgen ist kühl, windig und regnerisch.

Île Longue – In Gefangenschaft / Autoportrait

Freitag, 22. Juni 1917. 987. Tag.

Ich gebe mich heim Hockey- und Fussballspiel immer zu viel aus, so dass ich infolge der ungenügenden Kost nachher ganz erschöpft bin.

Sonntag, 24. Juni 1917. 989. Tag.

Das Gefangenenlos ist schrecklich. Wie glücklich sind die, die draussen im Feld stehen können. Unser kleines Lagerorchester gibt abends ein Konzert, das mich tief bewegt:

Ouvertüre zu Egmont van Beethoven
Klavier-Trio (C-Moll) van Beethoven
Requiem (3 Celli und Klavier) Popper
Suite No. 2 aus der Arlesienne Bizet

Montag, 25. Juni 1917. 990. Tag.

Die Abendzeitung berichtet, dass die Sovjets die Duma aufgelöst haben. Die Versuche der russischen Regierung, im Heere wieder Ordnung zu schaffen und eine neue Offensive vorzubereiten, scheinen bei der Soldaten- und Arbeiterpartei heftigen Widerstand zu finden. Ich nehme an, dass damit auch die Stellung des derzeitigen Kriegsministers Kerensky und des Generals Brusiloff erschüttert wird. Uns kann es nur recht sein, wenn es im russischen Revolutionskessel brodelt.

Mittwoch, 27. Juni 1917. 992. Tag.

Abends wurde im Lagertheater die „Versunkene Glocke“ von Gerhard Hauptmann gegeben. Spiel und Ausstattung war über alles Lob erhaben.

Freitag, 29. Juni 1917. 994. Tag.

Grauer Himmel. Kalt braust der Wind und treibt uns in die Baracken. Ich fühle eine entsetzliche Leere und Langweile in mir. Unzählige Male nehme ich ein Buch zur Hand und lege es wieder weg. Das Zeitungspapier ist für sanitäre Zwecke gerade noch gut genug. Gestern drang das Gerücht in das Lager, dass vor Brest der französische Kreuzer „Kleber“ versenkt worden sei.

Samstag, 30. Juni 1917. 995. Tag.

Winterlich kaltes Wetter mit stürmischem Wind. In der Mittagszeitung fanden wir das Gerücht vom Untergang des „Kleber“ bestätigt. König Konstantin von Griechenland soll sich jetzt in der Schweiz befinden. Nun ist Venizelos am Ruder und hat die diplomatischen Beziehungen zu den Mittelmächten abgebrochen.

Sonntag, 1. Juli 1917. 996. Tag.

Die Zeitungen machen grosses Geschrei von der Landung amerikanischer Truppen in Bordeaux. Das soll nun wohl den französischen „elan“ wieder aufbügeln.

Wir machen uns oft Sorgen wegen der Lebensmittelknappheit in Deutschland. Auch bei uns im Lager wird das Essen immer knapper, so dass sich viele Gefangene zur Landarbeit melden.

Montag, 2. Juli 1917. 997. Tag.

Das reine Winterwetter! Grauer Himmel und kalter Wind! In der Bucht liegt heute ein grosser Dampfer mit zwei Schornsteinen von etwa 16 000 Tonnen, ausserdem ein grosser Kreuzer mit 4 Schornsteinen. Die Russen sollen in Galizien auf einer Front von 50 km angegriffen haben. Hoffentlich rennen sie sich dabei vollends die Schädel ein.

Mittwoch, 4. Juli 1917. 999. Tag.

Der Angriff der russischen Armeen steht seit zwei Tagen im Vordergrund des Interesses. Nach anfänglichem Geländegewinn scheinen die Angriffe abgeschlagen worden zu sein.

Abends ist Mondfinsternis.

Donnerstag, 5. Juli 1917. 1000 Tag.

Schönes warmes Wetter. Eine Schweizer Kommission besucht das Lager. Die Herren benehmen sich recht sonderbar.

Sie sind unfreundlich und betragen sich anmassend.

Die russische Offensive scheint gestoppt zu sein.

Samstag, 7. Juli 1917.

Schwere Gewitterwolken ziehen am Himmel herauf. Der scharfe Westwind kühlt die Temperatur erheblich ab. Blitze wechseln mit Regenschauern, ohne dass es zu einer richtigen Gewitterentladung kommt.

Dienstag, 10. Juli 1917. 1005 Tag.

Heisser Sommertag. Zum ersten Mal seit unserer Anwesenheit auf der Insel dürfen wir im Meer baden. Ich mache mich fertig. Als ich aber die Franzosen bei den Gefangenen herumschnauzen hörte und wir unendlich lange warten mussten, bis je 100 Mann zum Meere hinuntergehen durften, ergriff mich die Wut, so dass ich auf das Bad verzichtete.

Die grosse Langeweile hat mich zur Zeit gepackt. Ich bin in einem förmlichen Zersetzungszustand, gleichgültig, unfähig zu gesammelter Arbeit.

Sonntag, 15. Juli 1917. 1010. Tag.

Die Abendzeitung berichtet über die Entlassung von Bethmann-Hollweg. An seine Stelle tritt Michaelis, der uns allen nicht bekannt ist.

Montag, 16. Juli 1917, 1011. Tag.

Heftiger Wind und Regen. Morgens fahren zwei Transporter von Torpedobooten begleitet, in den Hafen. Beim Abendspaziergang unterhalten wir uns lebhaft mit zwei Spaniendeutschen über die innere deutsche Politik. Es scheint, dass der Rücktritt des Kriegsministers von Stein, der mit Hindenburg und Ludendorf die Auffassung vertritt, im jetzigen Zeitpunkt mit dem Schwert, nicht mit Worten zu kämpfen, den Rücktritt des Reichkanzlers verursacht hat. Man muss danach in dem neuen Reichskanzler einen Vertreter des deutschen Friedens sehen. Im GEGENSATZ dazu scheint ein Teil (Mehrheit?) des Reichstags über eine Resolution betreffend Kriegs-Ziele abstimmen zu wollen, als ob dadurch der Krieg abgekürzt werden könnte!

Mittwoch, 18. Juli 1917. 1013. Tag.

Grauer, trüber, regnerischer Tag. Wie ein düsterer Schleier legt er sich auf Geist und Seele und droht mich zu ersticken.

Der Trompete Klänge sind verhallet
Die zum Schlafen riefen.
Nächtlich schwarzer Nebel wallet
Aus des Meers Tiefen.

Einsam eine Menschenseele irret
Auf des Lagers Wegen,
Wo der Stacheldraht sich wirret
Höhnt es ihr entgegen.

Dunkelheit, die ihren Schmerz verhüllet
Ihre Qual hienieden,
Helft! Auf dass ihr Wunsch erfüllet,
Dass sie finde Frieden.

Freitag, 22. Juli 1917. 1015 Tag.

Heute erhielt ich meine Heimatpaketchen ausgeliefert. Leider war eines durch das lange Liegen verdorben. Der neue Kanzler hat mit grosser Schärfe gesprochen. Neue Kriegskredite wurden gegen die 17 Stimmen der Liebknechtgruppe bewilligt.

Die Entwicklung in Russland ist nicht vorauszusehen, sie scheint aber eher einer Auflösung als einer Festigung entgegenzugehen.

Mittwoch, 25. Juli 1917. 1020. Tag.

Der bewölkte Tag endigt mit einem schönen Abend.

Es wird am Abend bekannt, dass die russischen Heere auf einer Frontbreite von 250 km zurückgehen. Die Deutschen haben den Sereth überschritten. Abends läuft eine ganze Flotille von kleinen Fahrzeugen in die Bucht ein.

Samstag, 28. Juli 1917. 1023. Tag.

Die Franzosen liefern den Gefangenen keinen Kaffee mehr. Der deutsche Hilfsverein im Lager hat es daher übernommen, in der Zwischenzeit Tee zu liefern. Zucker oder Zuckerersatz haben wir seit Jahr und Tag nicht mehr erhalten.

Donnerstag, 2. August 1917. 1028. Tag.

Der dritte Jahrestag der Kriegserklärung Deutschlands an Russland. Drei volle Jahre! Und noch immer stehen wir inmitten blutiger Kämpfe und nirgends sehen wir ein Er-lahmen der Kräfte.

Ob die Erlösung vom Osten dämmert? Wer kann es sagen? Alles, was ich in mir trage, ist der Glaube an Deutschland und die Hoffnung auf den Zusammenbruch Russlands.

Freitag, 3. August 1917. 1029. Tag.

Heftiger Wind. Jetzt, wo auf allen Fronten wieder heftig gekämpft wird, wird unsere Tageseinteilung wieder durch das Eintreffen der Zeitung bestimmt.

Montag, 6. August 1917. 1032. Tag.

Wenn es morgens hell geworden ist und das Licht durch die kleine Luke in unsere Koje dringt, erwache ich an dem vorsichtigen Schleichen, mit dem mein Kamerad Fritz als Erster aufsteht, sich von dem oberen Stockwerksbett herabhisst und zum Wasserhahn eilt, während in dem unteren Bett Fitje noch in tiefem Schlaf liegt. Ich drehe mich noch ein paar Mal im Bett herum, höre, wie Fritz den Wascheimer unter das Bett stellt und sich sacht anzieht. Er geht dann in unser Wohnabteil um zu lesen. Kurze Zeit danach ertönt die Trompete zum Wecken. Es ist 6 1/2 Uhr. Die abgehackten Töne des Wecksignals wirken auf mich wie die Püffe einer harten, knochigen Faust. Ich schlage die Augen auf, sehe Fitje noch schlafen und stehe auf.

Erst sehe ich nach, ob im warmen Bett, im Hemd oder zwischen den Decken noch irgend ein Floh sitzt, der sein quälerisches Nachtvergnügen noch nicht ganz ausgekostet hat, dann breite ich ein Stück Sackleinwand am Boden aus, stelle meine Waschschale zurecht, deren Inhalt am Abend zuvor an der Pumpe geholt wurde und beginne mich zu waschen. Etwas Seife habe ich noch im Vorrat liegen. Man weiss nicht, wie lange es noch solche in der Kantine gibt. Ich wasche und schrubbe mich von oben bis unten, frottiere mich tüchtig, trockne das Gesicht mit einem Leinenhandtuch nach und ziehe mich rasch an. Währenddessen ist Fitje aufgestanden, hat seinen Mantel übergeworfen und eilt zur Waschbaracke, denn bis zum Appell um 7 Uhr wird das Wasser abgestellt. Schon ist der Mann vom Stubendienst beschäftigt, den in der Küche geholten Kaffee einzuschenken. Ich trinke ihn meist zusammen mit meinem Kameraden Fritz. Ein Stück Brot wird dazu gegessen, entweder trocken oder mit einem von zu Haus erhaltenen Belag oder solchem aus der Kantine. In letzter Zeit konnten wir ab und zu Speck kaufen. Wir lassen ihn aus und geben ein Drittel oder bis zur Hälfte Palmbutter zu. Das schmeckt nicht schlecht. Allerdings wäre uns Eingemachtes lieber.

Das aber hat einen Haken, denn Früchte und Gemüse dürfen im Lager nicht verkauft werden. Um 7 Uhr ist Appell. Der alte Wächter, von den Gefangenen Weihnachtsmann genannt, geht durch die Baracke und zählt ab. Die Wächter haben je nach Aussehen von den Gefangenen Spitznamen erhalten, wie „Tod von Ypern“, „Kohlenfitz“, „Vogelfänger“, „Leiche auf Urlaub“ und dergleichen.

Falls es nicht regnet, gehe ich am Drahtzaun entlang oder beginne zu lesen. Von neun Uhr ab darf man sich auf dem von uns gebauten Sportplatz tummeln. Ich selbst bin ein eifriger Fussball- und Hockeyspieler. Gegen 10 Uhr wartet alles auf die Zeitung aus Brest, ganz besonders, wenn sich die kriegerischen Ereignisse überstürzen.

Um 10 1/2 Uhr ist Mittagessen. Ein Essen, das allmählich jedem von uns zum Hals herauswächst. Schon mengenmässig ganz ungenügend. Ausser Kartoffeln gibt es kein grünes Gemüse. Kein Mehl, um eine Tunke zu bereiten. Nach dem Essen holen wir heisses Wasser aus der Küche und brauen aus unseren eigenen bescheidenen Vorräten einen Kaffee. Dazu wird ein Stück Brot gegessen, dann eine Zigarette gedreht und geraucht. Den Mittag verbringe ich mit Lesen oder im Freien.

Da uns das Essen so schlecht bekommt, haben wir drei Kameraden uns einen Holzkohlenofen angeschafft, der im Lager angefertigt wurde. Abends kochen wir uns jetzt selbst. Meist essen wir um 4 1/2 Uhr zu Abend. Wir warten dann auf die um 18 1/2 Uhr erscheinende Zeitung, die uns aber am Dienstag und Donnerstag nicht gebracht wird, weil das Fährboot wegen Kohlenmangel ausfällt.

Um 20 1/2 Uhr ist wieder Appell. Eine Stunde später wird zum Schlafen geblasen. In der Zwischenzeit gehe ich mit Fritz spazieren. Unsere Gespräche drehen sich immer um die Heimat und die Frage des Durchhaltens. Mit der Angst vor Flohbissen kriechen wir um 21 1/2 Uhr zu Bett.

Samstag, 11. August 1917. 1037. Tag.

Wenn wir nur Kartoffeln bekommen könnten. Ich vermisse so sehr Zucker oder Marmelade.

Montag, 13. August 1917. 1043. Tag.

Trübes veränderliches Wetter. Zum Abendessen gibt es Linsensuppe: 8 Pfund Linsen auf neunzig Mann.

Freitag, 17. August 1917. 1043. Tag.

Wind. Die Franzosen schiessen von einem grossen Schlepper aus auf Scheiben, die U-Bootstürme darstellen. Es knallt den ganzen Tag über.

Montag, 20. August 1917. 1046. Tag.

Am Morgen hüllt ein fast undurchdringlicher Nebel das ganze Lager ein. Er verschwindet gegen Mittag und macht schönem, warmem Wetter Platz. Am Abend läuft eine grosse Flotte von kleinen Fahrzeugen in den Hafen ein.

Am Anschlagbrett des Lagers steht ein Aufruf zur Bildung einer polnischen Legion in Frankreich. Da unsere Ernährung unter das erträgliche Minimum gesunken ist, wollen sich in den nächsten Tagen wieder 100 Gefangene zur Landarbeit melden.

Wenn es jetzt abends zum Appell bläst ist es schon ziemlich dunkel. Wir denken schon mit Unbehagen an die kommenden Wintermonate.

Freitag, 24. August 1917. 1050. Tag.

Während der Nacht weckte mich das Brausen des Sturms einige Male. Er bläst aus der Biskaya. Die Baracken ächzen und zittern. Immer aufs Neue holt der finstere Geselle zu gewaltigem Hieb aus. Er rüttelt an den leichten Dächern, als ob das wilde Herr über unsere Köpfe dahinstürme.

In den Pausen hört man das Ticken des Holzwurms. Er arbeitet unermüdlich, auch in uns. Nicht nur das Holz wird alt, morsch und faul, auch unser Inneres wird durch die endlose Zeit zernagt.

Samstag, 25. August 1917. 1051 Tag.

Vor dem Wecken stehe ich auf. Der Sturm hat ausgetobt. Der Himmel ist mit einer dicken, grauschwarzen Wolkenwand bedeckt. Vor ihr hebt sich deutlich der weiss-graue Dampf der vor Brest liegenden Schiffe ab. Gegen Osten hin zerreisst ein scharfer Wolkenriss den dicken Vorhang. Seine Ränder färben sich hell und heller in silbrigem Weiss. Ein zarter Rosaton mischt sich dazu. Schon aber wieder legen sich weisse Wolkenfetzen vor das Sonnentor und lassen eine trübe Morgenstimmung aufkommen. Stärker bläst der Wind. Rasch zerreisst das graue Himmelsgewölbe in tausend Stücke, die in Bewegung geraten und den zartblauen Himmel hervorschauen lassen. Nur im Osten liegt noch eine schwere Wolkenbank.

Die Sonne arbeitet mit Macht. Sie sprengt die schwere Masse in gewaltige Stücke, die ihr immer wieder den Weg versperren wollen. Nur einen Augenblick dringen Strahlen aus den tiefen Schächten heraus, dann legen sich neue Wolkenblöcke davor. Jetzt tauchen vom Westen her neue graue Wolken herauf, ziehen rasch über das Himmelsgewölbe und schliessen sich vor der Sonne zu einer neuen dicken Wand zusammen. Immer neue Scharen von Wolken kommen in Eile herangezogen, sammeln sich, verstärken die Wand, die finster drohend immer höher wächst und bald das ganze Gewölbe überspannt. Nun fegt der Südwestwind über Dorf, Felder und Platz in die Baracken herein, nass prasselt es auf die Dächer nieder, das Rauschen schwillt an: Sturm und Regen feiern Hochzeit auf Europas entlegener Felseninsel.

Heute wurde der Direktion des Lagers von uns eine Beschwerde unterbreitet:

  1. Vollständig unzureichende Ernährung, durch die der grösste Teil der Internierten, namentlich die weniger Bemittelten, gezwungen sind, Hunger zu leiden.
  2. Nach Aussage der Direktion wird es voraussichtlich in den kommenden Wintermonaten vollständig an Beleuchtungsmitteln fehlen, so dass wir gezwungen sind, während dieser Monate abends im Dunkeln zu sitzen.
  3. Die Baracken können nach Aussage der Direktion nicht ausgebessert werden, weil es an Dachpappe und Teer fehlt, so dass es in den regnerischen Wintermonaten überall durchregnen wird.
  4. Es ist uns nicht erlaubt, frisches Gemüse, Obst und wenigstens Kartoffeln zu kaufen, trotzdem die Bretagne überaus reich an diesen Erzeugnissen ist und von einem Mangel daher nicht die Rede sein kann.

.... Was den Vorschlag der Direktion anbetrifft, uns mit unserer Beschwerde an die Schweizerische Gesandtschaft zuwenden, so bedauern wir, davon keinen Gebrauch machen zu können. Denn bei dem letzten Besuch haben wir leider den wenig guten Willen der ins Lager gesandten Schweizer Herren feststellen müssen, die, nachdem sie stundenlang das Lager besucht hatten, nicht einmal Zeit fanden, unsere Beschwerden allgemeiner oder persönlicher Art entgegenzunehmen."

Sonntag 26. August 1917. 1051. Tag.

Tag für Tag schmettern die Regensalven auf die Dächer der Baracken. Der Weststurm braust in schweren Böen heran und fegt zwischen den Baracken hindurch. Von Zeit zu Zeit zerreisst das Gewölk und gedämpftes Sonnenlicht leuchtet zwischen den Wolkenschleiern hervor. Schon aber rasen von neuem die schwarzen Gesellen vom Horizont herauf. Felsen und Hügel der Bucht, eben noch im milchigen Lichte sichtbar, werden durch das Grau des neu heraufziehenden Sturms verhüllt. Das Wasser der Bucht ist mit weissem Gischt bedeckt. Schwerer Regen klatscht herab. Er verfinstert schon die ganze Bucht. Rasend schnell gleitet er über die tosende Wassermasse, nun klettert er heulend und springend die steilen Hänge der Insel herauf. Da ist er wieder! Und nun schmettern in ungeheurem Tosen Sturm und Regen auf uns nieder, unaufhörlich, unermüdlich.

Montag, 27. August 1917. 1052. Tag.

Die ganze Nacht hindurch tobt der Sturm an den dünnen Holzwänden entlang. Die Baracken ächzen, die Dächer werden vom Regen gepeitscht. Am andern Morgen ist es nicht viel anders. Ich gehe hinaus in Regen und Sturm und mir ist wohl dabei. Am Abend nimmt der Sturm noch zu, er heult und donnert zwischen den Klippen Es ist, als ob in jeder Sekunde tausend Eisenbahnzüge aufeinanderstiessen. Die Baracke schaukelt auf und ab. Jeden Augenblick fürchten wir, dass wir davonfliegen.

Dienstag, 28. August 1917. 1053. Tag.

Es war eine schreckliche Nacht. Der Sturm schaukelt uns in den Bettstellen, er schrie, heulte, toste, krachte. Der Regen trommelt mit tausend Hämmern aufs Dach. Heute früh tobt der Sturm weiter, doch scheint die Sonne dazu, O merkwürdiges Land!

Mittwoch, 29. August 1917. 1054. Tag.

Der Sturm hat nachgelassen, doch pfeift er immer noch bald an- bald abschwellend über die Insel. Während der Nacht trommelte er mich mit einem Klatschregen aus dem Schlaf.

Ich gehe zum Turnen und merke, dass ich ganz gliedersteif geworden bin!

An Stelle des Morgenkaffees tritt eine Suppe. Pro Tag und Kopf werden dafür ausgegeben: 50 gr Kohl, 30 gr Karotten, 20 gr Zwiebel, 4 gr Fett. Ausserdem entfallen pro Mann und Tag 600 gr Brot und 500 gr Kartoffel. Fleisch gibt es in der Woche 600 gr, Zwiebel 400 gr, Kohl 600 gr, Trockengemüse 100 gr, Reis 60 gr, Fett 100 gr, Käse 40 gr.

Donnerstag, 30. August 1917. 1055. Tag.

Grauer, feuchtkalter Tag. Gegen Mittag versteift sich der Wind. Die kranken Gefangenen sollen sich beim Arzt wegen Internierung in der Schweiz untersuchen lassen. Von den 33 Mann unserer Baracke sind 19 zum Arzt gegangen und müssen nun stundenlang warten, bis sie an die Reihe kommen.

Gegen Abend rieselt Regen vom undurchdringlich grauen Himmel herunter. Er prasselt stundenlang auf den Dächern, so dass wir uns im Trockenen so einigermassen geborgen fühlen.

Für unser eigenes Öfchen haben wir Holzkohle bestellt. Anstelle von 100 kg erhalten wir 8 kg. Das kg zu 60 Cents. Es ist das erste Heizmaterial, das wir nach Anschaffung des Petroleums erhalten.

Freitag, 31. August 1917. 1056. Tag.

Die Nacht war tot und grau. Die fahle Scheibe des zunehmenden Mondes spiegelt sich in den Pfützen. Der Morgen ist kühl und grau. Die Atmosphäre ist feucht und lässt neuen Regen erwarten.

Samstag, 1. September 1917. 1057. Tag.

Trüber kalter Tag mit feinem Rieselregen. Eine ungewöhnlich grosse Zahl - ich zähle 63 - von Fahrzeugen, Dampfern und Seglern liegt in der Bucht. Wir machen einen langen Spaziergang in der Abenddämmerung. Hinter der Insel liegt das halbfertige Linienschiff „Flandre“ mit GESCHÜTZtürmen, aber ohne Geschütze, Schornstein und Ausrüstung. Voll und hell steht die Scheibe des Mondes am Himmel und wirft einen silbernen Glanz in die stillen, grauen Wasser der Bucht.

Dienstag, 4. September 1917. 1060. Tag.

Gute Nachrichten. Die Deutcchen sind bei Üxküll über die Düna gegangen. Die Russen gehen überall zurück. Wir erwarten in Kurzem den Pall von Riga.

Mittwoch, 5. September 1917. 1061. Tag.

Riga genommen! Hurrah! Grosse Freude im Lager über diesen Erfolg im vierten Kriegsjahr. Die Italiener greifen unaufhörlich am Isonzo an.

Freitag, 7. September 1917. 1065. Tag.

Abends und morgens ist es schon recht kühl. Gegen Mittag erscheint die Sonne und wärmt auf.

Im Osten machen unsere Truppen gute Fortschritte von Riga bis Friedrichsstadt. Unsere Flotte drang in den Golf von Riga ein. Die Zeitung wird jetzt immer mit Spannung erwartet.

In nächster Zeit sollen 190 Gefangene zur endgültigen ärztlichen Untersuchung nach Lyon fahren, um eventuell nach der Schweiz ausgetauscht zu werden.

Montag, 10. September 1917. 1066 Tag.

Beim Morgenwecken ist es kühl und grau. Es dauert lange, bis die Sonne durch den Wolkenschleier dringt.

Ein grosser Geleitzug fährt in die Bucht ein und ankert in der Nähe der Insel.

Mittwoch, 12. September 1917. 1063. Tag.

In der Nacht kommt es zum Sturm, der auch am Morgen noch fortdauert. Am Himmel jagen zerrissene Molken, durch die von Zeit zu Zeit ein Sonnenstrahl fällt. In der Mit-tagszeitung steht als Überschrift: „Korniloff marche sur Pétrograd“. Also Korniloff marschiert gegen Kerensky. Abends berichtet die Zeitung, dass Klembowsky sich mit Korniloff vereinigt gegen Kerensky.

Donnerstag, 13. September 1917. 1069. Tag.

Heute Macht fielen drei Geschosse eines in der Nähe übenden Maschinengewehres ins Lager, davon eines in die Kantine und je eines in die Baracken 17 und 42, ohne jemanden zutreffen.

Die Nachrichten aus Russland sind undurchsichtig. Politische wesentlich wird für Deutschland sein, dass Russland auf lange Zeit hinaus gelähmt sein wird.

Das Wetter ist kalt und winterlich. Graue Wolken bedecken den Himmel. Ein frischer Wind weht über die Insel.

Île Longue – Lager / Camp
Île Longue – Türkenbaracke / Baraque de Turcs

Freitag, 14. September 1917. 1070. Tag.

Wie die Mittagszeitung berichtet, soll beim Kampf um die Macht in Russland Kerensky gesiegt haben, wir erhielten gestern etwas Zucker gegen Bezahlung. Ebenfalls wurde 1/10 Liter Petroleum pro Kopf ausgeteilt. Unser Nachbar baut eine kleine Petroleum-lampe, deren Zylinder aus Aplirintablettenhülsen hergestellt wird.

Sonntag, 16. September 1917. 1072. Tag.

In Russland scheint ein neuer schwerer Zwist zwischen Sozialisten und Kadetten in Aussicht zu stehen. Polen erhält einen neuen Staatsrat, nachdem der alte demissioniert hat. Ja, sie werden und noch viel zu schaffen machen, die „zur westlichen Kultur gehörigen Polen.“ Vielleicht werden wir in einigen Jahren eine neue Teilung Polens erleben! Polen als Königreich! Dessen erster Schritt sein wird, territoriale Ansprüche auf Westpreussen, Posen und Galizien zu erheben!

Und die Dummen im Reich sind nicht alle. Ueppig wuchern die Erzberger und Scheidemann!

Montag, 17. September 1917. 1073. Tag

Rauer Westwind fegt durchs Lager. Die Schiebetür unseres Verschlags ist gegen Abend fertig geworden. Sie wurde zur Probe von allen Barackeninsassen hin- und hergeschoben, „um zu sehen wies geht“ sagten sie.

Dienstag, 18. September 1917. 1074. Tag

Nachmittags arbeiteten wir am Umbau unseres Abteils. Beim Auseinandernehmen meines Betts fand ich zu meinem Schrecken ein Dutzend Wanzen, an deren Dasein ich nicht hatte glauben wollen, da die Flöhe uns jeden Tage genügend Beschäftigung geben.

Donnerstag, 20. September 1917. 1074. Tag.

Morgens Nebel und Regen, mittags Sonne. Auf der Reede von Brest zähle ich nicht weniger als 71 Schiffe.

Montag, 24. September 1917. 1079. Tag

Prächtiger Sonnentag. Ich bin den ganzen Tag im Freien. Spiegelglatt ist das Wasser der Bucht. Viele Schiffe liegen vor Anker. Meine Eltern schreiben mir unter dem 6. ds. dass sie seit 1. Juli ohne Nachricht von mir sind.

Sonntag, 30. September 1917. 1085. Tag.

Wir haben Vollmond. Ich schlafe daher in den letzten Nächten sehr unruhig. Sonnen-schein flutet über die Insel und es herrscht eine ganz ungewohnte Wärme. Es ist so recht das Wetter zum Hinliegen und Träumen. Weit, weit fort fliegen unsere Gedanken. Ein Wunsch von Hunderttausenden, die Heimat bald wiederzusehen!

Bald sind drei Jahre vergangen, dass wir gefangen wurden. Noch strahlt uns kein licht der Hoffnung im Dunkel der Tage. Wir warten und hoffen. Wer möchte sich wundern, dass wir manchmal niedergedrückt und hoffnungslos sind. Keine Ehre, kein Ruhm, keine hohen Pflichten sind uns als Aufgabe gestellt. Tag für Tag, Jahr für Jahr schleicht dahin. Kein Frauenlächeln erfreut uns, kein süsser Mund winkt uns. Nur der Wind von Osten bringt uns Trost, der Wind der unsere Heimat streichelt, die Sonne, die auch unseren Lieben scheint, die Sterne, zu denen wir einst auch gläubig emporblickten. Verflossene Tage klingen wie Märchen zu uns herauf.

O Sonne, Du tust mir weh!

Mittwoch, 3. Oktober 1917. 1088. Tag.

In Anbetracht des nahenden Winters bereitet uns die Beleuchtung viel Sorge, weil wir wohl kein Petroleum erhalten werden und wir für die ganze Baracke überhaupt nur eine einzige Stallaterne haben.

Samstag, 6. Oktober 1917. 1091. Tag.

Regen und Wind. Morgens beim Wecken ist es noch ganz dunkel. Auch abends macht sich die Dunkelheit stark bemerkbar.

Heute Nacht soll die Uhr um eine Stunde vorgestellt werden.

Dienstag, 9. Oktober 1917. 1094. Tag.

Sturm und Regen. Entsetzlich lang wird mir die Zeit. Tausend Gedanken gehen mir durch den Kopf, wie ich mich beschäftigen könnte. Wenn ich aber zu einem Schluss komme, frage ich mich; was nützt mich das alles? Alle Beschäftigung erscheint mir albern, dient sie doch nur, um die Zeit totzuscnlagen.

Mittwoch, 17. Oktober 1917. 1102. Tag.

Ergötzlich ist, was die Kranken, die drüben im Krankenhaus von Brest lagen, über die mit dem Ausladen der Schiffe beschäftigten Franzosen und die deutschen Kriegsgefangenen erzählen. Diese haben einen regelrechten Vertrag über Stehlen miteinander geschlossen. An drei Tagen stehlen die Deutschen, an drei die Franzosen. Die ersteren müssen das gestohlene Gut von zwei Tagen an die Franzosen abliefern, während sie das von einem Tag für sich selbst behalten dürfen. Sie stibitzen eine Menge Schuhe, Zucker, Kaffee. Untersuchungen werden zum Schein angestellt, es kommt aber nichts dabei heraus.

Donnerstag, den 18. Oktober 1917. 1103. Tag.

Das Wetter ist seit zwei Tagen winterlich kalt geworden. Überall hört man Husten und heftiges Schneuzen, die Vorboten des Winters.

Dienstag, 23. Oktober 1917. 1108. Tag.

Feuchtkalter, trüber Tag. Die Deutschen haben Oesel, Moen und Dagoe besetzt. Im Lager blüht wieder Hoffnung.

Ich lese in Lienhards „Oberlin“. „O Gott!“ ruft er aus, „nur Frucht werden, Wirkungen üben, reifen und dann sterben!“

Mittwoch, 24. Oktober 1917. 1109. Tag.

Böiges regnerisches Wetter bei empfindlicher Kälte. Abends wurde in unserem Theater „Flachsmann als Erzieher“ gegeben. Wir haben alle tüchtig gelacht und das tat uns recht gut. Stürmischer Beifall schloss die Verlobungs- und Kusszene.

Donnerstag, 25. Oktober 1917. 1110. Tag.

Draussen hat den ganzen Tag über der Sturm getobt.

Ich sitze beim kümmerlichen Schein meines Lämpchens und lese.

Ach, wie armselig sind wir Gefangenen. Der Stille Augenblick wird immer wieder gestört durch den Lärm der Umgebung. Unser Leben ist das einer Herde. Keine Möglichkeit, sich in die Stille der Natur zu flüchten. Nur Nachts, wenn die Menschen schlafen, wandern meine Gedanken in weite Fernen. Ungestillte Wünsche pressen mir die Tränen in die Augen.

Jahre sind nun vergangen und Jahre werden vielleicht noch vergehen, bis ich wieder ein freier Mensch bin. Ich aber will mir Oberlins Worte zum Trost nehmen: „Das Leben ist vielfältig und jeder Mensch ist ein vielfältiges. Aber es kommt darauf an, dass man in aller Vielheit den innersten Blick stetig und stark auf das Eine richtet, was über allem Wechsel erhaben ist.“

Freitag, den 26. Oktober 1917. 1111. Tag

Gestern verabschiedete sich mein Sportskamerad Hellmut Funk, Sohn des Oberbürgermeisters von Elberfeld. Er wird gegen eine französische Geisel nach Deutschland ausgetauscht.

Als er mir die Hand zum Abschied gab, konnte ich mit Mühe die Tränen zurückhalten. Nach dreijähriger Gefangenschaft kehrt er nun heim. Wer weiss, wie viele Jahre wir noch sitzen müssen? Ich bin froh, in dem Gedanken, dass er drüben seinen Mann stehen wird.

Sonntag, 28. Oktober 1917. 1113. Tag.

Viel Wind. Erfreuliche Nachrichten von der Isonzo-Front.

Mittwoch, 31. Oktober 1917. 1116. Tag.

Ohne Aufhören regnet es den ganzen Tag über.

Die Deutschen stehen vor Udine. Die französischen Zeitungen suchen über die Schwere der italienischen Niederlage hinwegzutäuschen, indem sie allerlei optimistische Be-trachtungen anstellen.

Donnerstag, 1. November 1917. 1117. Tag.

Udine genommen. Die Italiener gehen auf den Taglia- mento zurück. Laut „Petit Pari-sien“ sollen wir in den ersten drei Tagen über 100 000 Gefangene gemacht haben.

Mittwoch, 7. November 1917. 1122. Tag.

Das Wetter ist kalt und regnerisch. Eisiger Wind weht uns um die Ohren.

Der Tagliamento wurde von den Deutschen bei Pinzano überschritten. Staatsmänner und Generäle der Entente sollen nach Rom abgefahren sein. Englisch-französische Hilfstruppen auf dem Marsch an die italienische Front. Wohl aus diesem Grund wird die Reise der für die Schweiz ausgesuchten Internierten abgesagt.

Donnerstag, 8. November 1917. 1123. Tag.

Feuchtes kaltes Wetter mit Regen. Die Mittagszeitung berichtet von weiterem Rückzug der Italiener. Wie spät jetzt deutsche Nachrichten durchgegeben werden, geht aus fol-gender Meldung des hiesigen Blatts hervor:

„Genève, 7 novembre 1917. Le communiqué allemand du 5 novembre au soir est ainsi conçu:“ Le Tagliamento a été franchi sur tout le front (?). La poursuite continue."

Die Engländer sind in Gaza eingezogen.

Sonntag, 11. November 1917. 1126. Tag.

Es gab in diesem Kriege viele Tage, an denen das Herz fast zerspringen wollte, aber selten hat die grosse Freude und Hoffnung auf den Sieg uns so bewegt wie heute.

In Russland hat die Masse des Volkes in dem Verlangen nach Frieden, in einer neuen Revolution Kerensky gestürzt. Die Alandsinseln wurden von den Deutschen besetzt. In Italien sind die Deutschen zur Piave vorgedrungen, haben die den Mittellauf beherrschenden Höhen besetzt und dringen im Oberlauf des Flusses vor. Die Armee Konrad ist in Tirol zur Offensive gegen die Flankenstellung der Italiener vorgegangen und hat ihnen Asiago und das ganze Plateau der Sieben Gemeinden bis zum Ostrand entrissen, Wie ungeheuer kann die Niederlage der Italiener werden, wenn es gelingt, bis Bassano durchzustossen. Cadorna ist abgesägt. Sein Nachfolger ist Diaz. General Malterre schreibt im Temps: „Qui contre Hindenburg?“ Ich las Friedrich Naumanns „Blaues Buch von Vaterland und Freiheit.“ Mit seinen Schlussfolgerungen einer mitteleuropäischen Rasse kann ich nicht einverstanden sein.

Montag, 12. November 1917. 1127. Tag.

Das Wetter ist sehr unsichtig. Mittags laufen vier grosse Dampfer in den Brester Hafen ein, drei mit vier, einer mit zwei Schornsteinen. Trotz des schwarzen Anstrichs können sie von unseren Seeleuten als von den Amerikanern beschlagnahmte Dampfer des Lloyd und der Hapag ausgemacht werden. Es ist zum wütend werden, wenn man ohnmächtig Zusehen muss, wie unsere schönen Schiffe in den Dienst des Feindes gepresst werden. Hoffentlich frisst sie bald ein Torpedo, wie die „Orleans“ und „Rochester“.

Dienstag, 13. November 1917. 1128. Tag.

Die im Hafen liegenden Schiffe werden als „Kronprinzessin Gecilie“, „Kaiser Wilhelm II“, „Kronprinz Wilhelm“ und „Amerika“ ausgemacht.

Sonntag, 18. November 1917. 1133. Tag.

Wir warten täglich auf den Durchstoss durch die italienische Front, aber es scheint noch nicht so weit zusein. Wir sind in nervöser Spannung, kaum können wir die Meldungen abwarten.

Morgens ist es sehr kalt, wir heizen zum ersten Mal ein.

Freitag, 23. November 1917. 1138. Tag

Nachmittags findet plötzlich ein Generalappell statt.

In der Nacht sollen aus den Lagervorräten 80 kg Schmalz, Kaffee usw. gestohlen worden sein. In Baracke 58 wurden die Gegenstände im Boden vergraben gefunden. Zwei Mann wurden sofort abgeführt.

Montag, 26. November 1917. 1141. Tag

Wir bekommen kein Petroleum mehr. Man kann es nur noch durch Schiebung beziehen. Der Liter kostet frs. 5,—. Infolge der Kälte sind die Türen und Fenster unserer Baracke fast dauernd geschlossen, so dass man von der dicken Luft Kopfschmerzen bekommt.

Mittwoch, 28. November 1917. 1143. Tag.

Trübe Atmosphäre, fast warme Temperatur. Dunkle Wolkenballen stehen am Himmel. Von Nordwesten her zieht eine schwarze Wand auf, während aus den Wolkenfetzen im Südosten helle Sonnenstrahlen zucken. Sie treffen die im schwarzgrauen Wasser der Bucht liegenden Dampfer, die plötzlich ganz hell und deutlich aus dem dicken Morgennebel hervortreten. Ein Regenbogen mit ungeheurem Durchmesser bildet sich auf der rasch heranziehenden schwarzen Wolkenwand, Immer neue Nebelmassen tauchen auf der Einfahrt der Bucht auf, schliessen sich zusammen und schieben sich vor die Sonne. Grau wird der Tag, feiner Regen rieselt herab; Ile Longue-Wetter.

Nachmittags fahren unsere schönen Schiffe, die seit dem 12. ds. hier liegen, aus der Bucht aus.

Sonntag, 2. Dezember 1917. 1147. Tag.

Rede des neuen Reichkanzlers Hertling.

Mittwoch, 5. Dezember 1917. 1150. Tag.

Morgens ist es so kalt, dass wir gleich nach dem Essen unseren Holzkohlenofen anstecken. Wilson hält seine zweite Rede gegen Deutschland.

Donnerstag, 13. Dezember 1917. 1153. Tag.

Die deutsche Währung ist im Kurs wieder gestiegen.

Für Rm. 100.— Einzahlung erhält man frs. 100. während man zur Zeit des grössten Tiefstandes am 26. Oktober für M 100.— nur frs. 61,5 erhielt.

Sonntag, 16. Dezember 1917. 1161. Tag.

Heftiger Sturm und Regen. Es ist schade, dass das schöne Konzert am Nachmittag unter dem Ächzen und Stöhnen der Barackenwände leidet. Glücklicherweise sass ich ganz nahe bei unserem kleinen Orchester.

  1. Zwei Sätze aus der Suite l’Arlesienne I und IV Bizet
  2. Konzert für Cello C-Moll De Swert
  3. Sechste Symphonie „Pastorale“ Beethoven

Montag, 17. Dezember 1917. 1162. Tag

Der Nordsturm brüllte während der Nacht, so dass an Schlafen nicht zu denken war. Die Baracke ächzte und stöhnte, der Sturm rüttelte und schüttelte sie. Dachpappe wurde abgerissen, die gegen Bretter und Fenster klatschte. Dazwischen tönte schauerlich das Tuten eines Dampfers, dem wir in grausamer Feindschaft Verderben wünschten. In der Tat sahen wir am Morgen einen Dampfer hoch auf dem Sand sitzen.

Draussen rast der Sturm weiter. Beim Essenholen wirft er uns fast die umklammerten Teller aus den Händen.

Mittwoch, 19. Dezember 1917. 1164. Tag.

Der Waffenstillstand an der russischen Front scheint in vollem Gange zusein. Alle französischen Zeitungen schimpfen über die „Traitres russes“. Die „Dépêche de Brest“ bringt einen für Frankreich sehr betrüblichen Artikel vom Lebensmitteldiktator Bovet. Er weist auf die Notwendigkeit hin, allein an Getreide 36 Millionen Zentner, d.h. je Monat 4 300 000 Zentner einzuführen. Überhaupt wird der U-Bootskrieg viel ernster genommen als dies bisher der Fall war. Das klingt auch aus allen Ministerreden heraus.

Freitag, 21. Dezember 1917. 1166. Tag.

Vor etwa zwei Monaten verliessen zwei Dreschkommandos das hiesige Lager. Davon sind zwei Mann, S. und W. ausgerissen und ins Lager zurückgekommen. Sie sagten, dass in der Gegend von Le Mans grosse Knappheit an Brot herrsche. Das Getreide würde gedroschen, sofort gemahlen und verbacken. Als die Dreschmaschine in einem Ort nicht gleich zur Stelle war, fehlte an zwei Tagen das Brot. Händeringend seien Bauern gekommen, man möge doch gleich bei ihnen dreschen, die Regierung hätte gedroht, dass sie an die Front kämen, wenn nicht zu einem bestimmten Zeitpunkt bei ihnen gedroschen sei. Aus diesem Grund sei auch die Dresohreihe oft geändert worden.

Für die Gefangenen sei das Essen gut, die Unterbringung aber miserabel gewesen. Die Gefangenen wurden nachts in einem Stall zusammengepfercht und bewacht. Oft fehlte es an Gelegenheit sich zu waschen. Die Wäsche konnte überhaupt nicht gereinigt werden. Unsere Gefangenen brachen nachts um 1 Uhr aus und marschierten 20 km nach Le Mans, wo sie nicht weiter auf fielen und in einem Cafe frühstückten. Sie erzählten, dass sie ein Dreschkommando führten und Amerikaner seien. Sie liessen sich dann den Weg nach der Präfektur zeigen und erzählen dort dem erstaunten Beamten, wer sie seien und dass sie in ihr früheres Lager zurückzukehren wünschten. Dies wurde gegen Bezahlung von frs. 8.— Verpflegungskosten für einen Begleitsoldaten bewilligt.

Sonntag, 23. Dezember 1917. 1168. Tag.

Wir haben im Lager für arme deutsche Soldaten frs. 3000.— gesammelt und das Geld nach Brest hinübergeschickt. Dieses Geld, sowie 50 Pakete des deutschen Hilfsvereins wurden durch den Präfekten zurückgeschickt.

34 neue Gefangene kamen im Lager an. Sie waren zwei Tage ohne Essen und Trinken geblieben. Andererseits lesen wir, dass der vaterländische Frauenverein in Frankfurt für gefangene französische Soldaten frs. 2 000.— gestiftet hat. O, ihr Langhaarigen!

Es wird verboten, am morgigen Weihnachtsabend länger als bis 9 Uhr Licht zu brennen.

Montag, 24. Dezember 1917. 1169. Tag.

Kein Ausruhen für meine müde, irrende Seele. Wann werde ich wieder Heimat und Liebe haben? Als ich bei der Abendandacht den brennenden Weihnachtsbaum erblickte, wäre ich am liebsten wieder aus der Baracke herausgelaufen. O, wie arm sind wir geworden!

Donnerstag, 27. Dezember 1917. 1173. Tag.

Scharf weht der Wind aus Osten. Drei mächtige graugestrichene Transportdampfer, von Torpedobooten geleitet, fahren in die Bucht.

Montag, 31. Dezember 1917. 1177. Tag.

Eisiger Wind stürmt über die Insel. Die Einschränkungen, die Frankreich im Brotverbrauch machen muss, treffen auch uns.

Von jetzt aber halten wir, statt 600 gr Brot täglich, nur noch 200 gr. Dafür soll die Kartoffelration von 500 gr auf 1 kg erhöht werden, ausserdem sollen wir anstelle von 100 gr Fett, 60 gr Reis, 100 gr Trockengemüse zukünftig 80, 100 und 250 gr erhalten. Wie aber soll es werden, wenn die Bohnen so muffig und voller Würmer sind wie diesen Sommer?

Wir gingen, wie üblich, frühzeitig schlafen. Um Mitternacht schreckte ich auf. Ich glaubte, einen Choral zu hören, aber es waren die Dampfsirenen der in Brest liegenden Schiffe. Das alte Jahr ist zu Ende. Wir dürfen mit ihm zufrieden sein. Die unbestreitbaren militärischen Erfolge bleiben auf unserer Seite. Der Zusammenbruch Russlands gibt uns die Gewähr dass der Feind auch im Neuen Jahr keine Erfolge erzielen wird.

Zum Schluss des Jahres ärgerten mich die Reden Erzbergers.

Mir selbst wünsche ich, dass mir eine gute Gesundheit erhalten bleiben möge. Wenn dies auch durch die knappe Ernährung erschwert wird, so suche ich dies durch zweckmässige Lebensweise wett zu machen, Frühaufstehen. Reinlichkeit des Körpers. Meine Anzüge sind arg abgenutzt, aus Ersparnisgründen trage ich auch keinen Kragen mehr. Damit habe ich den äusserlichen Menschen abgelegt, ohne auf den guten inneren verzichten zu wollen.

Île Longue – Allein / Seul

1918

Dienstag, 1. Januar 1918. 1178. Tag.

Post von zu Hause. Im Freien ist es kalt.

Dienstag, 8. Januar 1918. 1185. Tag.

Der erste Schneefall. Es ist ekelhaft kalt.

Mittwoch, 9. Januar 1918. 1186. Tag.

Die Höhenrücken der Brester Bucht sind von einer weissen Schneedecke überzogen, unterbrochen von einzelnen grauen Flecken. Einen seltsamen Gegensatz gegen das leuchtende Weiss des Landes bildet das bleigraue Wasser der Bucht, das tot und schwer daliegt. Der regenschwangere dunkle Himmel spaltet sich und gibt den Blick in lichte Bläue frei. Die Sonne kommt sogar noch heraus und lässt uns einen Morgenspa-ziergang längs des Drahtzauns geniessen.

In letzter Zeit gibts morgens kein Waschwasser mehr.

Wer kein Gefäss besitzt, um sich abends Waschwasser zu holen, muss auf Waschen verzichten.

Donnerstag, 10. Januar 1918. 1187. Tag.

39 Monate gefangen. Der warme Sonnenschein hat den gestrigen Schnee zum Schmelzen gebracht. In sattem Braun liegen die feuchten Schollen des Ackers da. Von Zeit zu Zeit schlägt ein kühler Regenschauer nieder.

Wieder kommen zwei deutsche Dampfer unter amerikanischer Flagge in die Bucht: Präsident Lincoln und Captain Grant, für unsere Seeleute deutlich erkennbar an den sechs Lademasten.

Wenn unsere Seeleute auf die Schiffe draussen blicken, so scheint es uns, als ob sie ein Stück ihrer selbst damit sehen.

Sonntag, 20. Januar 1918. 1198. Tag.

Der Sturm wütet den ganzen Tag über, so dass das Symphoniekonzert wegen des lauten Geräuschs ausfallen musste.

Tabak kommt nicht mehr ins Lager, so dass manche Gefangene das Seegras ihrer Matratze rauchen. Hereingeschmuggelter Tabak wird mit frs. 100.— je 750 gr bezahlt.

Donnerstag, 24. Januar 1918.

Trübes windiges Wetter. „Kronprinzessin Cäcilie“ und „Kaiser Wilhelm II“ fahren unter amerikanische Flagge in den Hafen von Brest.

Geldkurse: M 100.— schw. frs. 33 1/4 (-32,57%) = ffrs. 107.— ffrs.l00.— = „“77,35 (-22.15%)

Montag, 4. Februar 1918. 1212. Tag.

Nach einigen schönen Sonnentagen hat das Wetter wieder umgeschlagen. Vom undurchdringlich grauen Himmel strömt ununterbrochen der Regen herunter. Die Zeitungen berichten über die Absage des Obersten Alliierten Kriegsrats in Versailles gegen die Reden von Hertling und Czernin. Sie beharren auf ihrem festen Entschluss, den Krieg weiterzuführen. In Russland kämpfen die Maximalisten an allen Grenzen, während in Brest-Litowsk Trotzki grosse Propagandareden führt.

Es scheint, dass auch in einigen deutschen Grosstädten der rote Funke gezündet hat. Streiks traten auf und der Belagerungszustand musste verhängt werden.

Dienstag, 5. Februar 1918. 1213. Tag.

Auf einen trüben Morgen folgt ein heller Abend.

Schon sind die Abende wieder länger geworden.

Eine Schweizer Kommission besichtigt das Lager.

10 unserer Gefangenen sollen nach Algier geschickt werden als Repressalie für 10 in Frankreich geholte und in Russland internierte Franzosen. Die französische Regierung weigerte sich, die aus dem Eisass weggeholten deutschen Männer, Frauen und Kinder auszutauschen.

Samstag, 9. Februar 1918. 1217. Tag.

Wir graben den Sportplatz um, der durch die Regengüsse des Herbstes ausgewaschen wurde. Vor dem Stacheldraht blüht schon wieder der Ginster.

Mittwoch, 20. Februar 1918. 1228. Tag.

Trotzki brach die in Brest-Litowsk geführten Verhandlungen ab. Nach Ablauf des Waffenstillstandes sind die Deutschen kampflos in Dünaburg und Luck eingerückt. Es heisst, dass sich Lenin den Bedingungen der Mittelmächte fügen wolle.

Sonntag, 24. Februar 1918. 1232. Tag.

Von unserem ausgetauschten Mitgefangenen Funk erhalte ich einen Brief aus Elberfeld. Weite Strecken Landes wurden von unseren Truppen in Russland besetzt.

Freitag, 1. März 1918. 1237. Tag.

Es stürmt und regnet den ganzen Tag. Vor Kälte muss ich von Zeit zu Zeit die Feder aus der Hand legen. Es ist eine niederträchtig feuchte, bis auf die Knochen gehende Kälte. Die rotgefrorene Nase meines Kameraden schaut zur Tür herein. Er will einige Holzkohlen anglühen. Ich lege die Feder hin, um zu warten, bis ich die wärmende Glut spüre. Nach zehn Minuten glüht der Holzkohlenofen. Fritz hat den Ofen unter den Tisch gestellt und nun steigt die Wärme wohlig unter dem Tisch herauf. Von Zeit zu Zeit ziehe ich den Fuss aus dem Stiefel und halte ihn darüber.

Montag, 4. März 1918. 1240. Tag.

Nach einer frostkalten Nacht bricht ein warmer windstiller Sonnentag an, so dass ich mich zum ersten Mal in diesem Jahr vor die Baracke setzen kann.

Der Friede mit Grossrussland wird heute als abgeschlossen gemeldet. Kiew wurde von uns besetzt. Nun wird auch Rumänien bald nachgeben müssen.

Sonntag, 10. März 1918. 1246. Tag.

Wundervoller Tag. Ich habe Hemden in Spanien bestellt, die meinigen sind jetzt total herunter. Sie haben den Titel „Theaterhemden mit Notausgang“ verdient.

Samstag, 16. März 1918. 1252. Tag.

Wir beschwerten uns bei den Franzosen, weil wir nur noch 200 gr Brot je Tag bekommen. Es wurde uns gesagt, dass die Ration von 300 gr nicht aufrecht erhalten werden könne, da auch die Brester Bevölkerung dieses Mass nicht immer erhalte.

Dienstag, 19. März 1918. 1255. Tag.

Draussen braust der Weststurm. Die ganze Dacht über hat es geregnet. Wundervoll spiegeln sich zerrissene Wolkenfetzen in den vielen Wasserpfützen.

Trübe und zerrissen wie das Wetter ist auch meine Stimmung. Von dem Zeitungsgewäsch hinweg muss ich mich wieder zu den Büchern flüchten.

Freitag, 22. März 1918. 1258. Tag.

Die grosse deutsche Offensive?

Die Brester Zeitung berichtet, dass unsere Truppen zwischen La Fere und Croisilles auf 30 km Front angegriffen haben Wir deuten günstig, dass es heisst: „Le combat continue“. Wir erwarten die Nachrichten voll Spannung.

Samstag, 25. März 1918. 1259. Tag.

Die Mittagszeitung bringt keinen Heeresbericht. Ob wir das als gutes Zeichen deuten dürfen?

Der Himmel ist so blau, die Sonne scheint, die ganze Bucht liegt in klarem Blau mit Frühlingswärme angefüllt.

Und dort draussen Sturm an der Westfront, hinter der wir als Gefangene schmachten.
Abends dringt das Siegesgerücht zu uns. Bei St. Quentin soll die englische Verteidi-gungslinie durchbrochen worden sein.

Ist es wahr, ist es möglich?

Sonntag, 24. März. 1918. 1260. Tag.

Die Brester Mittagszeitung berichtet, dass die Engländer ihre neuen Stellungen westlich St. Quentin gegen deutsche Angriffe gehalten hätten. Die Franzosen berichten über den Beschuss von Paris durch ein 24 cm Ferngeschütz aus einer Entfernung von 120 km, worüber sich das ganze Lager die Köpfe zerbricht.

Montag, 25. März 1918. 1261. Tag.

Die deutsche Offensive schreitet vorwärts. Linie Bapaume-Peronne-Ham erreicht. Albert soll genommen sein?

Mittwoch, 27. März 1918. 1263. Tag.

Das Wetter ist kühler geworden.

An der Westfront wird heftig weitergekämpft. Neue Namen werden nicht mehr genannt. Scharfer Westwind am Abend.

Donnerstag, 28. März 1918. 1264. Tag.

Westwind. Brausender Regen schlägt auf die Dächer.

Der gestrige französische Heeresbericht spricht von Kämpfen bei Montdidier. Das wäre ja ein bedeutender Fortschritt. An der weiter nördlich gelegenen englischen Front scheint der Kampf zu stehen.

Samstag, 30. März 1918. 1266. Tag.

Strömender Regen während der ganzen Nacht. Hoffentlich behindert er die deutsche Offensive nicht. Heftiger Angriff auf Arras. Bei Moreuil wird gekämpft.

Wir fühlen, dass über unserem Geschick wieder etwas Ungeheures schwebt. Ein Gedanke beherrscht uns: „Siegt die Front?“

Mittwoch, 24. April 1918. 1264. Tag.

Mein 27ster Geburtstag. Ich werde ja alt. Fritz hat mir einen prächtigen Reikuchen auf den Tisch gestellt. Wo er ihn bloss herhat?

Unsere Offensive scheint nicht durchgedrungen zu sein. Verwegener Landungsversuch der Engländer bei Zeebrügge.

Samstag, 27. April 1918. 1267. Tag.

Prachtvolles Sonnenwetter. Ich sitze vor der Baracke und schaue über den in der Sonne flimmernden Sportplatz hinüber in das Grün der Felder, von denen mich der Stacheldraht trennt.

Auf den Dächern des Dorfs im Grund spielen blaue Schatten, die Giebel schimmern in blendendem Weiss. Ich lese, mit Genuss Kellers „Ferien vom Ich“.

Der Kemmel von den Deutschen genommen.

Donnerstag, 2. Mai 1918. 1272. Tag.

Die „Vaterland“ ist unter amerikanischer Flagge in die Bucht gefahren. Ihr Anblick löst in uns ein schmerzliches Gefühl aus. Das Theater hat wegen internen Krachs die Vorstellungen eingestellt. Die Zeitungen sind wieder einmal voll von Interniertenaustausch.

Freitag, 10. Mai 1918. 1280. Tag.

Grosse Freude im Lager, dass der Gefangenenaustausch zwischen Deutschland und Frankreich ratifiziert wurde.

Samstag, 11. Mai 1918. 1281. Tag.

Der Wortlaut des Austauschvertrags erscheint in der Zeitung. Demnach sollen alle Zivilinternierten bis 15. August ausgetauscht sein. Es ist merkwürdig, dass zur Zeit alle Preise im Lager so heruntergehen. Der Liter Petroleum, der vor kurzer Zeit noch frs. 6 - 8.— kostete, ist auf 75 cents gesunken.

Von Spanien erhalte ich die Nachricht, dass Hemden an mich unterwegs sind. Es ist auch die höchste Zeit, denn meine Hemden sind vollständig zerschlissen.

Immer wieder fragen wir uns ob wohl der Austauschvertrag zustande kommt. Ich wage gar nicht mehr, mich Hoffnungen hinzugeben.

Sonntag, 26. Mai 1918. 1296. Tag.

Unsere Pfingstwettkämpfe in Leichtathletik, Schwerathletik, Fussball, Hockey und Schauturnen sind zu Ende. Das ganze Lager nahm aktiv oder passiv daran teil. Ich habe mir 5 erste Medaillen und ein Diplom erworben. Die Medaillen wurden von dem Ungarn Kowacs sehr schön modelliert und gisgegossen.

Dienstag, 28. Mai 1913. 1293. Tag.

NEUE deutsche Offensive am Chemin des Dames. Wir sind bis Pont Arcy, 8 km hinter die französische Front, gestossen.

Donnerstag, 30. Mai 1918.

Soissons wurde von den deutschen Truppen genommen.

Die „Vaterland“ fährt in die Brester Bucht wieder ein.

Samstag, 1. Juni 1918.

Das Wetter ist prachtvoll. Am Abend kommt die Nachricht, dass die deutschen Truppen die Marne erreicht haben.

Sonntag, 2. Juni 1918.

Heisser sonnendurchglühter Tag. Es ist wunderbar, in der Sonne vor der Baracke zu sitzen.

Drüben auf dem Höhenrücken wird von den Amerikanern eine drahtlose Station gebaut. Wir können den Funkturm gerade noch ein Stück sehen. Abends wird bekannt, dass Château Thierry von den Deutschen genommen wurde.

Freitag, 7. Juni 1918. 1308. Tag

Zwei Herren des französischen Ministeriums weilen wegen Gefangenenaustausch hier.

Sonntag, 9. Juni 1918. 1310. Tag.

Beim Nachmittagskonzert in der Baracke herrscht grosse Bewegung, als bekannt wird, dass aie Armee Hutier zwischen Noyon und Montdidier angegriffen habe.

Montag, 10. Juni 1918. 1311. Tag.

Bin furchtbarer Nordsturm wirft wie mit Schaufeln Sand auf das Lager. Durch alle Ritzen dringt der rieselfeine Staub.

Donnerstag, 13. Juni 1918. 1314. Tag.

Bedecktes unsichtiges Wetter.

Abends hören wir, dass in der Schlacht am Chemin des dames bis zum 7. 75 000 Franzosen gefangen worden seien. In dem Journal des Débats und in der Europe nouvelle lesen wir Angriffe gegen Clemenceau.

Freitag, 21. Juni 1918.

Nebelwetter. Ich liege wegen eines bösen Beines im Bett und lese. Ausserordentlicher Schiffsverkehr herrscht in letzter Zeit im Hafen und in der Bucht von Brest. Eine ganze Anzahl ehemaliger deutscher Dampfer ist zu erkennen. Sie alle bringen Truppen und Material aus den Vereinigten Staaten nach Europa. Die Presse bringt Artikel in grosser Aufmachung darüber. Ich hoffe, dass sich trotzdem nicht das Blatt zu Gunsten der En-tente wenden wird.

In Italien wird an der Piave gekämpft. Die Schlacht steht, Überraschungen sind wohl nicht mehr zu erwarten.

Montag, 24. Juni 1918. 1315. Tag.

Am letzten Samstag fuhr zum dritten Mal die „Vaterland“ in Brest ein. Das Wetter ist trüb, windig und wolkenschwer.

Die Amerikaner melden, sie hätten nun 800 000 Mann an Truppen auf dem Festland.
Die Oesterreicher gehen nach dem Kampf um den Montello wieder über die Piave zurück. Es scheint, dass die Ernährungslage in der Donaumonarchie beunruhigend ist. Merkwürdig ist, dass wir aus Deutschland kaum mehr Pakete erhalten, während aus Oesterreich immer noch Sendungen mit Kuchen, Wurst und Schokolade eintreffen mit dem Beifügen, dass man dies alles frei kaufen könne. Seit einigen Tagen erhalten wir morgens überhaupt nichts mehr.

Samstag, 29. Juni 1918. 1330. Tag.

Prachtvolles Wetter. Zwei Schweizer besuchen das Lager. Niemand weiss, warum sie gekommen sind.

Fussbälle, die über den Zaun des Sportplatzes hinausgehen, werden von den franzö-sischen Wachen einfach einbehalten.

12. Fussbälle haben sie bis jetzt einbehalten.

Dienstag, 2. Juli 1918. 1333. Tag.

Beim Abklopfen meines Bettgestells fand ich Wanzen. Jetzt wird mir klar, warum ich in den letzten Nächten so schlecht geschlafen habe. Zum ersten Male erhalten wir neue Kartoffel.

Die alten stanken schon und mancher Gefangene bekam Bauchweh von ihnen.

Samstag, 6. Juli 1918. 1337. Tag.

Glühend heisser Tag. Ich liege auf meiner Matratze, die ich zwischen die Baracken gelegt habe und lasse mich von der Sonne beschienen. Beim lesen streichelt mich leis der Wind.

Die Anzeichen, dass wir von hier fortkommen sollen, mehren sich. Am kommenden Montag sollen die aus dem Reichsland verschleppten Elsässer von hier abfahren. O, wenn wir nur bald nach Hause kämen!

Montag, 8. Juli 1918. 1339. Tag.

Die Elsässer reisen wirklich ab. Gott sei Dank, dass der Austausch beginnt. Kann sich jemand vorstellen, wie einem zu Mute ist, wenn diese so oft, gehörte und ebenso oft unerfüllte Versprechen vielleicht in kürzester Zeit in Erfüllung geht?

Donnerstag, 8. August 1918.

O wie schwer wiegt diese unselige Wartezeit auf uns allen. Schon ist der Sommer bald vorüber. Kalt und kahl wird alles sein bis wir nach Hause kommen. Wir warten und warten.

Das Theater ist geschlossen, die Bücherei steht gepackt und reisefertig. Auch ich habe gepackt. Ich muss nun wieder anfangen, meine Wäsche auszupacken und zu nähen und --- zu warten.

Wir warten und warten.

Wir ziehen die Hockeyschläger wieder heraus und spielen bis es uns den Atem verschlägt, um zu vergessen --- vergessen.

Wir gehen in die Baracke, sitzen uns gegenüber, leer und hohl und --- warten, warten.

Sonntag, 8. September 1918.

Eine böse Zeit liegt hinter uns. Wieder einmal ist unsere sehnliche Hoffnung, ausgetauscht zu werden, enttäuscht worden.

Nur wer dies selbst erlitt, weiss, was das bedeutet. Hoffnung, Glaube und Vertrauen schwinden. Wir sind ja nur noch Objekte zu Repressalien und zum Ausgehandeltwerden. Es genügt, die Psyche des Gefangenen literarisch zu behandeln und das Gegenteil zu tun. Bitterkeit und Verbitterung hat uns befallen.

Mit Sorge sehen wir dem Winter entgegen. Eine schwere Grippe geht im Lager um. Es gibt viele Kranke.

Und nun mache ich heute einen dicken Schlusstrich unter das Kapitel Austausch.

8. Oktober 1918.

Mehr als je sind in den letzten Tagen und Wochen meine Gedanken in die Heimat gewandert. O, könnte ich helfen!

Donnerstag, 7. November 1918.

Abends wurde bekannt gegeben, dass die Gefangenen mit den Anfangsbuchstaben A - H voraussichtlich am kommenden Montag in ein neues Lager abreisen sollen. Alle Briefe und Schriftstücke müssen abgegeben werden.

Politisch und militärisch steht es schlimm um Deutschland. Bulgarien und die Türkei haben kapituliert. Die oesterreichische und ungarische Armee war an der Piave auseinandergelaufen. Oesterreich musste sich die Bedingungen der Entente gefallen lassen. Deutschland verhandelt wegen Waffenstillstand. Unsere Armee ist auf die Linie Gent - Guise - Rethel zurückgegangen und zieht sich anscheinend auf die Mass zurück. Die alliierten machen alle Anstrengungen um die deutsche Front zu zerreissen.

In Brest leuchten plötzlich aus der Dunkelheit Raketen und Scheinwerfer auf. Ist es Waffenstillstand? Wir sind in einem Zwiespalt der Sorge um die Heimat und dem Wunsch, endlich nach Hause zu kommen.

Montag, 11. November 1918.

Um 12 Uhr feuern die Batterien in der Bucht. Glocken ertönen aus weiter Ferne. Waffenstillstand! Wir fürchten uns vor den Bedingungen!

Dienstag, 12. November 1918.

Die Waffenstilstandsbedingungen sind fürchterlich.

Das kann doch nicht sein. Ich jage mit Kamerad Reuter ums Lager, bis wir ausser Atem sind. Besetzung Deutschlands bis zum Rhein, Abtretung Elsass-Lothringens. Brückenköpfe Köln, Koblenz, Mainz. Auslieferung von 9 000 Geschützen, 25 000 Maschinengewehren, 5 000 Lokomotiven, 150 000 Waggons, 5 000 Lastkraftwagen. Der grösste Teil unserer Schlachtflotte soll ausgeliefert werden.

Alle Gefangenen müssen herausgegeben werden ohne Gegenseitigkeit. Seelischer Zusammenbruch im Lager.

Freitag, 22. November 1918.

In diesen Tagen der Trauer verliert sich unser Denken und Fühlen ins Ungewisse, Schwarze. Meine Kräfte scheinen mich zu verlassen. Und doch brauche ich sie so nötig für die Zukunft.

8. Dezember 1918.

Hoffentlich entscheidet ein Vorfriede über unser Schicksal, damit wir wenigstens im kommenden Jahr unsere Freiheit wieder haben. Es ist ja ein Gebot der Menschlichkeit. Ich bete um Geduld, damit ich die unerträgliche Gegenwart überstehen kann.

Was in Deutschland vorgeht, vermögen wir nicht zu verstehen.

22. Dezember 1918.

Die Grippe hat sehr im Lager umgegriffen. Einige Kameraden müssen nun, nach so langen Jahren der Gefangenschaft, ihr Grab in fremder Erde finden. Bei insgesamt 2000 Gefangenen waren 700 Grippefälle im Lager.

Am 13. ds. war der Friedensmacher, Präsident Wilson in Brest eingetroffen, geleitet von acht bis zehn mächtigen Linienschiffen. Wenn der Präsident zu seinem Wort steht, wird er einen schweren Stand gegen die Entente haben.

Freitag, 27. Dezember 1918.

Die entlassenen Grippekranken kommen vom Arsenalspital in Brest zurück. Seemann Brose aus Baracke 50 erzählt, dass die Kranken das gleiche Hemd, in dem sie fieberten und das durch Durchfall verunreinigt war, anbehielten, ebenso die Bettlaken, bis sie dieselben selbst waschen konnten. Für 270 Kranke waren nur 8 Wasserhahnen vorhanden und vier Aborte. Am 7. November gefangene, ganz junge deutsche Soldaten lägen drüben, zum Skelett abgemagert. Man liess sie nach der Gefangennahme die ganze Nacht im Regen stehen, gab ihnen für drei Tage eine winzige Ration Brot und führte sie im Fussmarsch weg. Italienische, hinter der Front arbeitende Soldaten gaben ihnen Brot. Die französische Kavalleriemannschaft stieg ab, riss den Gefangenen das Brot aus der Hand und warf es fort. Sie wurden dann drei Tagen in Viehwagen transportiert und mussten darin ihre Notdurft verrichten. Mager wie die Skelette hätten sich die Unglücklichen ins Lazarett geschleppt wo ausser den deutschen Soldaten keine andere ständige Pflege ist. Der französische Chefarzt soll ein guter Mann sein. Er legt den Arm um den Kranken und sagt: „Ça va mieux ?“ Aber das sei alles. Der Arzt geht, die Kranken gehen auch und sind wieder sich selbst überlassen. Brose ist froh, dass er wieder ins Lager zurückgekommen ist.

Île Longue – Wir richten uns eine Stube ein / Aménagement d’une pièce

Sonntag, 29. Dezember 1918.

Wir sind um Deutschland in Sorge. Die Zahl der Anhänger Liebknechts scheint sich zu mehren. Die Regierung Ebert scheint aufs schwerste bedroht zu sein.

Sonntag, 12 Januar 1919

Ein schauerlicher Sturm herrscht draussen.

Auf der Reede liegt der deutsche Dampfer „Sierra Ventane“ unter Rotkreuzflagge. Er brachte französische Gefangene aus Deutschland zurück, die auf der Insel Treberon ausgebootet werden.

Samstag, 13. Januar 1919.

Liebknecht und Rosa Luxemburg in Berlin gelyncht.

Im Lager soll ein bolschewistischer Verein gegründet worden sein. Er soll folgendes Programm haben:

  • Verteilung aller ankommenden Geldsendungen und Pakete.
  • Neuwahl des Büropersonals und der Gruppenführer.
  • Vereinigung des deutschen mit dem oestrreichisch - ungarischen Hilfsverein,
  • Abreissen sämtlicher Abteileinrichtungen in den Baracken
  • Aufhebung der Sonderrechte der Reserveoffiziere

Samstag, 25. Januar 1919.

Der deutsche Dampfer „Almeria“ liegt vor unserer Insel und bootet französische Gefangene aus Deutschland aus. Nach der „Batavia“ der dritte Dampfer! Und leer fahren sie wieder weg!

Wo bleibt die „humanité“. Verschiedene unserer Kameraden haben mit den aus Deutschland kommenden französischen Gefangenen gesprochen. Einer davon war eigens aus seinem Dorf gekommen, weil er nicht glauben wollte, dass hier in Frankreich Zivilinternierte sässen. Das erste, was er sagte, war: „Votre camp fait une impression bien triste. Où sont votre maison d’administration ? (!) Votre théatre, votre cinéma ? Er war bei Hannover in Stellung gewesen und hatte einige tausend Mark Ersparnisse mitgebracht. Er sagte, bei den Deutschen sei die Disziplin streng gewesen. Mein Kamerad fragte:“Ist es wahr, dass so viele Pakete für die französischen Gefangenen gestohlen wurden?„Mais non, ils sont arrivés très régulièrement, d’ailleurs c’est quelque chose pour les richards, moi je n’en ai jamais reçu. Vous voyez, mon pays est pauvre.“ Von verschiedenen Gefangenen hörten wir, dass sie wieder nach Deutschland zurück kehren wollten, da dort besser gearbeitet und verdient werde.

Nach Abschluss des Waffenstillstandes konnten sich die französischen Gefangenen in Deutschland hinbegeben wohin sie wollten. Einer erzählte von seinem Bruder, der nach Brest gekommen sei: „Mon frère et tous ceux qui sont arrivés avec lui, sont en très bonne santé. Il a gagné quelques milliers de marks et voudrait, si possible retourner en Allemagne en temps de paix. On a écroué deux rapatriés qui voulaient changer au bureau 30/40000 marks. Ce sont probablement les présidents du Comité de secours“ sagte er treuherzig.

Wenn man diesen Aussagen die gemeinen Anwürfe der „Dépêche de Brest“ gezeichnet von Caradec und Göudurier gegenüberstellt, die immer über die Bestialität der Deutschen schrieben. „Aucun homme intélligent ne les prend au sérieux, ce sont des chauvins.“ Der Befragte, aus Rennes gebürtig und in Paris angestellt, fügt hinzu:
„La plus grande partie de la compagnie (unserer Wachkompagnie) ne sait ni lire ni écrire, c’est pourquoi ils croient tout ce qu’on leur lit du quotidien.“

Mittwoch, 29. Januar 1919.

Das Wetter ist kalt und feucht.

Wie erbärmlich ist unser Dasein. Seit Monaten glaube ich in Stücke auseinanderzufallen. Es gibt keine Anregung und Zerstreuung. Die Friedensverhandlungen scheinen sich endlos hinzuziehen, ohne dass die Alliierten Anstalten machen, die Gefangenen zurückzugeben.

Abends wollte ich in dem Theater „College Crampton“ sehen. An der Türe wird mir gesagt, dass das Theaterspielen von der Lagerdirektion verboten worden sei. Das ist nun im fünften Jahr. Es werden Wetten abgeschlossen, dass wir auch am nächsten Weihnachten noch im Lager sind.

Dienstag, 4. Februar 1919.

Seit 10 Tagen dauert die Friedenskonferenz in Paris. Wilson musste schon auf Punkt 1 (offene Verhandlungen) seiner berühmten 14 Punkte verzichten. Mit offenem Verhandeln ist es also nichts geworden. Es werden offizielle Berichte herausgegeben aus denen man so gut wie nichts ersehen kann. Die Mittelmächte sind überhaupt nicht zugelassen.

Samstag, 15. Februar 1919.

Die Gefangenen der Alliierten sind alle aus Deutschland freigelassen worden. Trotzdem sitzen wir alle noch hier, ohne Aussicht, in absehbarer Zeit unsere Freiheit wieder zu erlangen. Im Gegenteil, in der französischen Kammer wird darüber verhandelt wie man am besten die deutschen Kriegsgefangenen zur Hebung der französischen Industrie und Landwirtschaft verwenden soll. Ein Teil ist in das verwüstete Gebiet in Nordfrankreich befördert worden, um bei den Wiederherstellungsarbeiten verwendet zu werden. In der Bucht liegt der amerikanische Schlachtkreuzer New Mexico, der Wilson nach den US zurückbringen soll. Was will er dort machen?

Ebert wurde Präsident der Deutschen Republik, Scheidemann Reichskanzler.

Samstag, 16. Februar 1919.

Erwachen

Dem Morgendämmer weicht die Nacht
Die ruh- und traumlos mich gequält,
Ein fahler Schein sich durch die Luke stiehlt,
Verkündend, dass der Leidenstag beginnt.
Gespenstisch kinstert’s in der schwanken Hütte
Darin ich jahrelang geseufzt, gebangt, gezittert,
Der Freiheit wunderbare Hoffnung ich ersehnt,
Nach Liebe lechzend, nach der Vögel Sang,
Nach Wald und Wiesen,
Nach der Blumen Duft,
Nach meiner Heimat grünem Hügelland,
Nach Stromes Rauschen und des Münsters Klang!
Vorbei! Vorbei!
Geängstigt sucht die kalte Hand
Des Herzens ehedem so warmen Schlag:
Tot! Tot! ist alles, was in mir
Gejauchzt, gesungen einst, geweint, gebebt,
Gestorben vor den Augen, die gesehn,
Gestorben vor der Seele die’s gefühlt.

Wie eines Uhrwerks stahlgezackte Räder
In unerbittlichem Sichineinanderfügen
Des Zeigers ewig gleiche Bahn
In ew’gem Gleichlauf vorwärtstreiben.

So lieg ich mit geschloss’nen Augen stundenlang Dem Licht des jungen Tages Zutritt wehrend bis der Trompete morgendlich Geschmetter Mich vom zerwühlten Lager peitscht.

Donnerstag, 19. Februar 1919.

Gestern wurde 0. Wilde’s „The importance of being earnest“ gespielt. Einer der Kameraden übertrug das Stück ins Deutsche. Es hat sehr gut gefallen.

Eisner, der in Bern eine üble Rede wegen der Kriegs- gefangenen gehalten hatte, wird ermordet.

Donnerstag, 6. März 1919.

In der Nähe des Lagers arbeiten in einem Steinbruch Amerikaner. Sie kaufen gerne Andenken von uns, z. B. Schiffe in Flaschen, Einlegearbeiten usw. Mit solchen Gegenständen versehen, schleichen sich nachts Gefangene durch den Drahtzaun und tauschen dafür Taback, Zucker und dergleichen ein. Auf diese Weise machen die Händler im Lager ein Geschäft, das allerdings das Leben kosten kann.

Im Lager wird von gelernten Metzgern Wurst hergestellt und auch zu Tauschzwecken aus dem Lager gebracht, ja sogar in dem benachbarten Dorf Fret verkauft. Die dortigen Bauern behaupten, dass sie in ganz Brest keine so gute Wurst bekämen wie die bei uns hergestellte.

Sonntag, 30. März 1919.

Winterabend

Die Nacht bricht an
Kaum, dass der Tag begonnen,
Mit schwarzen Schwingen senkt sie sich
Schwer auf die gramerfüllten Hütten,
Sie klettert nieder durchs Gewirr der Balken
Verbreitend sich in dumpfen Räumen,
Darin des Grabes Schweigen waltet.
Gebrochner Menschen tote Augen starren
Verzweiflungsvoll und müde durch die Dunkelheit.
Fünf Jahre lang ein Sklavenleben
Im Kerker dreissigfachen Stacheldrahts
Und keine Aussicht, dass es bald zu Ende.
Der Hoffnung Träume sind verweht, verbelicht
Sehnsücht’ger Wünsche lichtverklärte Bilder.
Erbarmungslose Henker spannen ihre Fäuste Wollüstig stöhnend
Um der Gefangnen schmerzgepresste Kehlen
Die regungslos
In weltenfernem Starren
Des Wintertages abgekürzte Bahn
Mit hoffnungslosem Seufzen schliessen.

Samstag, 12. April 1919.

In der Brester Bucht liegen 50 deutsche ausgelieferte Schiffe, zum Teil seit vielen Wochen. Sie wollen Deutschland mit Nahrungsmitteln versehen?

Ostersonntag, 20. April 1919.

In 5 Tagen sollen die deutschen Delegierten zur Friedenskonferenz beigezogen werden.

In München sind seit einigen Tagen die Kommunisten am Ruder.

Donnerstag, 3. Mai 1919.

Der erste, herrlich warme Frühlingstag. Die „Friedensbedingungen“ wurden heute den deutschen Delegierten in Versailles verlesen. Da kann man wohl sagen, dass es „Bedingungen“ sind. Im Osten und Westen an Land beschnitten, wirtschaftlich geknechtet, als Sklave des Völkerbundes steht Deutschland da. Dieser Friede wird die erste Ursache des kommenden Krieges sein.

Ja, die deutschen Gefangenen werden im Friedensvertrag auch erwähnt: Abzuholen nach Zeichnung des Vertrags mit deutschen Schiffen auf deutsche Rechnung. Und dies, nachdem unsere gesamte Kriegs- und Handelsflotte bis herunter auf die 1500 t Handelsschiffe ausgeliefert werden musste. Dazu sollen 120 Milliarden Kriegsschulden gezahlt werden!

Dienstag, 13. Mai 1919.

Das Wetter ist warm, abends schwül.

Alle Gefangenen werden von Wanzen geplagt. Wir haben nun in unserer Kameradschaft neben jedes Bett eine Kerze gestellt, die wir nachts von Zeit zu Zeit entzünden, um Wanzen zu jagen.

Mittwoch, 28. Mai 1919.

Seit einigen Tagen ist das Wetter richtig sommerlich. Ich sitze in der kurzen Sporthose in der Sonne und döse vor mich hin:

"Glück und Unglück, beides trag in Ruh,
Alles geht vorüber und auch Du!"

Donnerstag, 29. Mai 1919.

Die oesterreichischen Gefangenen kommen aus dem Lager weg.

Der Notenwechsel wegen des Friedens dauert ohne Aussicht auf bessere Bedingungen an.

Wir lesen, dass die besetzten Rheinlande als selbständige Republik aufgemacht werden sollen! Das ist doch nicht möglich! O Tollhaus!

Mittwoch, 11. Juni 1919.

Gestern wurde mein Kamerad Gustav Fritz zum Vertrauensmann der Baracke gewählt. Fritz ist ein wirklich guter Kamerad. Er hat schon als Freiwilliger in Deutsch-Südwest den Herero-Aufstand mitgemacht und ist ein anständiger Mensch vom Scheitel bis zur Sohle. Spasseshalber hatten wir aus diesem Anlass das Blasquartett bestellt, das vor dem wecken frühmorgens vor dem Bett von Fritz das Lied spielte: „Ueb immer Treu und Redlichkeit“.

Wie lange werden wir noch hier sitzen.

Dr. Dorten der Präsident der Rheinischen Republik und seine sauberen Minister wurden von der Volksmenge verprügelt.

Sonntag, 15. Juni 1919.

Von Posten der französischen Wachmannschaft wurde schon wiederholt ins Lager geschossen. So heute auf meinen Kameraden R. aus Hamburg, als er abends vor der Baracke die Zähne putzte. Glücklicherweise ging der Schuss vorbei.

Ein betrunkener Posten schoss in die Nachbarbarack 52, verletzte den Kameraden Scheiding schwer an der Schulter und tötete einen friedlich auf seinem Bett sitzenden Seemann (Nawitzki) durch Herzschuss.

Montag, 16. Juni 1919.

Das Lager erhebt Protest wegen des erschossenen Kameraden. Alle Dienste für die Franzosen werden eingestellt. Drei Tage soll der Protest dauern.

Die Franzosen schliessen den Sportplatz ab und erlassen ein Post-Paket- und Zeitungsverbot gegen die Gefangenen.

Donnerstag, 19. Juni 1919.

Mir ist es manchmal, als ob aufgelöst
In feinen Himmelsäther, der mich rings umgibt
Wo weder Wunsch noch Erdenlärm die Stille trübt,
Mein Innerstes in Reinheit sich entblösst.
Ich schwebe, schwing mich frei von Erdenschwere
In unermesslich weite Fernen
Und höre gleitend über Sternen
Als wie im Traum das Rauschen von dem Meere.

Wird der Friedensvertrag unterzeichnet oder nicht. Trotz aller für uns Gefangene entstehenden Folgen bin ich für Nichtunterzeichnung.

Sonntag, 22. Juni 1919.

Heisse Sonne brütet auf der Insel. Wir sind müde und schläfrig. Dumpf wie in den Baracken ist es auch in unserem Innern. Mit dem Gefühl eines Ertrinkenden, den die Kräfte verlassen wollen sehe ich der auf morgen angesetzten Unterzeichnung des Friedens entgegen. Wenn nur dieser Kelch an uns vorüber wäre. Der Schmerz der Heimat ist auch unserer.

Abends 20 1/2 Uhr wird bekannt, dass die in Scapa Flow internierte deutsche Schlacht-flotte ihre Schiffe versenkte.

Freitag, 1. August 1919.

Heute war ich zum ersten Mal ausserhalb des Lagers, in St. Fiacre, um Kohlen nach der Pumpstation zu bringen. Es war eine gute Stunde Weg. Wir kamen durch Getreidefelder mit wechselnder Ergiebigkeit, daneben fanden sich kleine Gemüsegärtchen.

Von Zeit zu Zeit kamen wir durch einen kleinen Flecken, dessen fensterlose Häuser aus dicken Quadern erbaut waren. Auf dem ganzen Weg sah ich ausser einem einzigen jungen Mann nur kleine Frauen und blassgesichtige Kinder.

Sonntag, 3. August 1919.

Ich lese das Buch „Vae victis!“ des ehemaligen Mitgefangenen Madsack aus Uzes.

Samstag, 9. August 1919.

Zwei Gefangene sind aus dem Lager ausgebrochen. Nun soll ein neuer Stacheldraht um das Lager gezogen werden. Unsere deutschen Arbeiter im Lager aber weigern sich, dies zu tun.

Ein Gespräch

1. Internierter: „Du siehst ja ganz glücklich aus, was ist denn los mit Dir?“

2. Internierter: „Ich habe ein Seebad genommen.“

1. Intern.: „Du bist wohl ganz verrückt?“

2. Intern.: „Nicht im geringsten, es ist wie ich sage.“

1. Intern.: „Mensch, erzähle!“

2. Intern.: "Du weisst, dass wir seit Jahren auf einer Insel sitzen, wo es gewöhnlich kalt und stürmisch ist und der Regen selten aufhört. Aber in den paar Sommermonaten, wo dieSonne vom Himmel brennt, dass sich die Holzbaracken vor lauter Hitze zu Fragezeichen krümmen, ach, wie lockt mich da das Meer zum Baden.

Aber Tatsache ist, dass wir nicht baden dürfen, weil es, dass das Meer durch die boches verunreinigt werden könnte oder aus einem anderen Grund. Kommt da heute ein Leichter an mit Kohlen, die rasch abgeladen werden müssen. Wir greifen ordentlich zu, dass im Handumdrehen die 15 Tonnen gelöscht sind. Jetzt denk bloss: Unsere inständige Bitte, in’s Meer hüpfen zu dürfen, um den Kohlenstaub von der Haut zu waschen, wird als Belohnung gewährt. Mit den anderen Kameraden stürze ich mich in die Wellen. Es ist mir dabei so wohl wie einem Fisch, der von der Angel losgekommen ist. Erst schwimme ich so ein bischen auf dem Bauche, dann auf dem Rücken, sehe über mir den blauen Himmel und - mit einem Mal ist die ganze Gefangenschaft vergessen. Riesenkräfte erfüllen mich. Gewaltig rudern meine Arme, stossen die Beine, wie die Kolben einer Maschine. Bald jage ich mit der Fahrt eines abgeschossenen Torpedos durch die Wellen. Der Wind pfeift mir um die Nase. Unermüdlich schwingen die Arme, stossen die Beine. Durch die Bucht schiesse ich in wahnsinniger Fahrt, dann in den Kanal hinaus. Wolken jagen zu meinen Häupten vorbei, schon blinken die Kreidefelsen von Dover herüber. Auf der gegenüberliegenden flachen Seite tauchen Windmühlen auf: Aha, Holland!

Immer weiter geht die tolle Fahrt. Schmutziggelbes Wasser verrät die Elbmündung. Schon schwimme ich stromaufwärts.

St. Pauli taucht auf, da bumm! war ich mit dem Schädel an eine Boje gerannt. Im gleichen Augenblick ruft die Trompete der Franzosen die Badenden ans Ufer zurück. Es war ein gemeines Aufwachen aus meinen Träumen, aberhich kann Dir sagen, es war schön, mal für ein Viertelstündchen die ganze Gefangenschaft und alles was drum und dran ist, zu vergessen. So, nun weisst Du, warum ich so glücklich aussehe.

1. Intern.: Na, da hast Du allerdings Grund dazu. Hast Du übrigens das von Hein gehört ?

2. Intern.: Meinst Du den Speckjäger Hein in Baracke 111? Was ist mit dem los?

1. Intern.: Ja denk’ Dir nur. Der hat von seiner Frau einen Brief bekommen, in dem sie schreibt, sie erwarte ihn von Tag zu Tag und könne nicht begreifen, dass er nicht kommt. Es stehe doch in den deutschen Zeitungen dass alle Internierten sich frei be-wegen dürften.

2. Intern.: Ist nicht möglich!

1. Intern. Jawohl! Und dann schreibt sie noch, sie könne ja verstehen, dass er nach der langen Gefangenschaft sich noch etwas in Frankreich amüsieren wolle, aber er solle doch nicht vergessen, dass er Frau und Kinder zu Hause habe.

2. Intern.: Nicht möglich! Übrigens eine vernünftige Frau!

1. Intern.: Was sagst Du nun?

2. Intern.: Na adjüs!

1. Intern.: Adjüs.

12. August 1919.

In der Kantine werden getragene amerikanische Militärhemden von olivgrüner Karbe zu ffrs. 5.— je Stück verkauft. Wie ich hörte, werden die gleichen Hemden in Brest zu 28 Centimes das Kilo (= 9 Hemden) verkauft. Das ist ein gutes GESCHÄFT für den Kantineninhaber!

Samstag, 16. August 1919.

Das Wetter ist brühwarm.

Der „Temps“ berichtet, dass von einer Herausgabe der deutschen Gefangenen überhaupt erst dann die Hede sein wird, wenn „ausser“ Deutschland noch drei alliierte Grossmächte den Frieden ratifiziert haben werden. Und dann?

Samstag, 23. August 1919.

Nun sind es drei Jahre, dass wir, in Ile Longue eingetroffen sind! Der Stacheldraht wird zur Zeit erneuert!

Dienstag, 26. August 1919.

Heute wurde zum ersten Mal offiziell die Erlaubnis zum Baden gegeben. Wir hatten im letzten Jahre wiederholt und auch in diesem Jahr an den Präfekten geschrieben, dass man uns doch baden lassen mochte. Baden ohne Badeboot ist aber nicht erlaubt und ein Boot auf der Insel wäre von den Deutschen vielleicht zur Flucht benutzt worden. Wir hören nun, dass ein Boot schon vor 6 Wochen geschickt worden sei, aber vom Leutnant der Wache beschlagnahmt und zum Fischen benutzt worden. Aus diesem Grund dürfen wir Gefangene beim heissesten Wetter sechs Wochen lang nicht baden!

Mittwoch, 27. August 1919.

Heute Nacht sind drei Gefangene bei dem Versuch, bei Ebbe nach dem Festland zu entfliehen, gefasst worden. M. hat dabei einen Bayonettstich bekommen und wurde ins Lazarett nach Brest gebracht. Sturm und Regen machen dem Sommer ein Ende.

Donnerstag, 28. August 1919.

In der Nacht hörte ich kurz nacheinander zwei Schüsse fallen. Draussen peitschte Sturm und Regen durch die Lagergassen. Am Tag hören wir, dass wieder zwei Ausreisser abgetan wurden.

Samstag, 30. August 1919.

Es wird wieder ein Ausreisser gemeldet, nach Aussage des Arztes soll der Leutnant der Wache bei dieser Nachricht Krämpfe bekommen haben. In der Nähe des Lagers sehen wir Patrouillen nach dem Ausreisser suchen. Die Wachen wurden vervierfacht. In schroffem Gegensatz dazu steht im „Temps“ vom 30/8/1919:

Les prisonniers de guerre vont être repatriés. Le conseil suprême des Alliés a décidé de rendre publique la déclaration suivante relative aux prisonniers de guerre:

„En vue de diminuer, aussi rapidement que possible, les souffrances causés par la guerre, les puissances alliées et associées ont décidé de devancer la date de ratifi- cation du traité de paix avec l’Allemagne, en ce qui concerne le rapatriement des prisonniers allemands. Les opérations de rapatriement commenceront mmédiatement et seront conduites sous les auspices d’une commission interalliée à laquelle un reprêentant allemand sera ajouté dès la mise en vigueur du traité.“ Les puissances alliées et associées désirent qu’il soit bien entendu que la continuation de cette politique bienveillante dont les soldâtes allemand tireront de si grands avantages, dépendra de l’accomplissement par le gou-vernement et le peuple allemands, de toutes les obligations qui leur incombent.„Rappelons que d’après le traité de Versailles, le rapatriement des prisonniers allemands devait commencer seulement apres la mise en vigueur de ce traité, c’est à dire après sa rectification par trois des principales puissances alliées ou associées.“

Freitag, 5. September 1919.

Zum dritten Mal dürfen wir im Meer baden.

Ein neuer Drahtzaun wird ums Lager gezogen (Lazarett), der unsere Bewegungsfreiheit noch mehr einengt. Der „Temps“ bringt einen Brief an den Direktor der Leitung, wobei der Einsender der Entrüstung Ausdruck gibt, dass die Gefangenen „jetzt schon“ entlassen werden.

Meine Eltern haben in letzter Zeit so oft der Hoffnung Ausdruck: gegeben, mich bald wiederzusehen, dass ich bittere Briefe nach Hause geschrieben habe. Wenn die Leute in Deutschland doch endlich begreifen würden, dass wir als Garantie für die von ihnen übernommenen Verpflichtungen dienen.

Dienstag, 23. September 1919.

In der Baracke gibt es viele Mäuse. Wir haben jetzt „Muschi“ eine Barackenkatze die oft ein Mäusefrühstück hat.

Sie kommt jede Nacht zu mir und legt sich auf meine Füsse, die morgens durch das kleine Tierchen an den aussersten Bettrand gedrückt sind.

Mittwoch, 24. September 1919.

Ein durch das Lager gezogener neuer Drahtzaun wurde über Nacht von uns abgerissen. Die Pfähle geben eine Menge Feuerholz, Alle Baracken werden mit neuen Riegeln versehen, damit sie während des Appells verschlossen werden können. Wir haben die Riegel sofort abgeschraubt. Es ist so kalt geworden, dass wir den Kohlenofen wieder in Benützung nehmen.

Freitag, 26. September 1919.

Von der schweizerischen Gesandtschaft ging heute dem deutschen Hilfsausschuss auf Anfrage folgender vom 16. ds. datierter Brief zu:

„Die schweizerische Gesandtschaft bestätigt Ihnen den Empfang Ihres Briefes vom 30. August und teilt Ihnen mit, dass nach den Auskünften, die sie zu erhalten vermochte, die französische Regierung die Heimbeförderung der Zivilinternierteh selbst noch vor Ratifizierung des Priedensvertrages zu beginnen. Sie können daher diesbezüglich Ihre Kameraden beruhigen.“

Samstag, 27. September 1919.

In der Brester „dépêche“ werden für unser Lager Wachleute gesucht. Da scheint es noch gute Zeit mit unserem Heimkommen zu haben.

Sonntag, 23. September 1919.

Ein eisiger Nordsturm bläst über die Insel, so dass man keinen Schritt ausserhalb der Baracke tun kann.

Ich warte seit Tagen auf Nachrichten aus der Heimat. Durch die verlogenen Zeitungsmeldungen werden allerlei Parolen über unsere Heimbeförderung in Umlauf gesetzt. Sie bereiten mir nur Qualen.

Montag, 29. September 1919.

Die Nacht war bitter kalt, so dass ich meinen Mantel über meine Decken breiten musste um überhaupt warm zu haben.

Die Posten vor dem Lager geben jetzt während der Nacht Schüsse ab, um uns vor dem Ausreissen abzuschrecken. An der Inselfurt wird ein neuer Stacheldrahtzaun errichtet, die Wachmannschaft verstärkt und während der Nacht Horchposten in den Ginsterbüschen aufgestellt. Die Kohlen für die Küchen werden rationiert. Auf den Mann entfallen pro Woche 2 1/2 kg Kohle

Dienstag, 30. September 1919.

Morgens 3 Uhr zeigt das Thermometer 8° Wärme.

Seit etwa 6 Wochen sind 4 französische Arbeiter damit beschäftigt, den Drahtzaun zu verstärken, neue Pfähle einzurammen und neue Drähte zu ziehen.

Fritz baut für unseren Ofen ein neues Rohr aus Kondensmilchdosen. Die Gefangenen brechen alte leerstehende Baracken ab, um Holz für den kommenden Winter zu gewinnen.

Mittwoch, 1. Oktober 1919

Der Hilfsausschuss veröffentlicht folgende Mitteilung:

„Das Rote Kreuz in Frankfurt a/Main teilt in einem Brief an den deutschen Hilfsausschuss, datiert vom 17. September, mit, dass nach einer Note, die im Nachrichtenblatt der Reichssstelle für die Kriegs- und Zivilgefangenen erschienen ist, die französische Regierung sich bereit erklärt hat, die Zivilgefangenen sofort in die Heimat abzutransportieren.“

Der von den Gefangenen vor einer Woche abgerissene Stacheldrahtzaun im Lager wird heute unter militärischem Schutz wiederaufgebaut.

Donnerstag, 2. Oktober 1919.

Am Büro der Verwaltung ist ein Anschlag ausgehängt, wonach die Post der zivilen Kriegsgefangenen nicht mehr der Zensur unterworfen sein soll.

Freitag, 3. Oktober 1919.

Was helfen alle Verordnungen! Die Gefangenen wollen endlich heraus aus dem Stacheldraht! Die Menschen müssen ja irrsinnig werden! Jede Wacht brechen Leute aus, werden irgendwo wieder abgefasst, bekommen 30 Tage Arrest, dann ist es wieder wie zuvor.

Samstag, 4. Oktober 1919.

29 Gefangene sind heute Nacht in einem grossen Boot ausgerissen. In allen benachbarten Orten werden sie wieder gefasst und kommen in die Kasematten der Insel.

Sonntag, 5. Oktober 1919.

Im „Temps“ erscheint ein Artikel über die Heimschaffung der Kriegsgefangenen. Das französische Aufsichtspersonal munkelt auch, dass wir bald fortkommen sollen. Aber wie oft sind wir schon enttäuscht worden.

Am Abend geht das Gerücht, dass 26 der Ausreisser wieder gefasst worden seien.

Montag, 6. Oktober 1919.

Die Ausreisser wurden nachts zurückgebracht und gleich in die Kasematten geschafft. Zu der schnellen Entdeckung trug ein Steckbrief bei, der gegen einen amerikanischen Soldaten gerichtet war und diesen als „type boche“ bezeichnete.

Mittwoch, 5. Oktober 1919.

Neues Lagergeld wird ausgegeben.

Wieder einmal keimt die wunderbare Hoffnung auf Befreiung in mir. Was bin ich anders als ein ewig hoffender Mensch. Vergebens suche ich die aufsteigende Hoffnung niederzuzwingen. Sie ist da und schmeichelt und streichelt so lange bis ich wieder zu glauben beginne. Zum ersten Mal seit vielen Jahren brennen wir wieder eine normale Petroleumlampe, für die Petroleum zu kaufen war. Die Lichtfülle ist uns allen ungewohnt.

Freitag, 10. Oktober 1919. 1826. Tag.

5 Jahre Gefangenschaft!

Wann werden wir befreit werden?

Wo bleibt Recht und Gerechtigkeit?

Ein Unrecht ist an uns begangen worden, dessen Spuren unauslöschlich in uns einge-graben sein werden. Gegen das Völkerrecht hat man uns gefangen, im harnen des Rechts hält man uns gefangen. Wer gibt uns die verlorenen Jahre zurück?

Ganz still will ich nach Hause kommen. Das Betreten des heimatlichen Bodens wird für mich ein heiliger Augenblick sein

Samstag, 11. Oktober 1919

Der deutsche Kanzler Bauer drückt sich in folgenden Worten über die Kriegsgefangenen aus:

“Die vom ganzen Volk so lange gewünschte Heimbeförderung der Kriegsgefangenen hat endlich begonnen. Es ist uns äusserst schmerzlich, dass sie so langsam von Statten geht, aber wir müssen alles ertragen, denn wir wollen den Friedensvertrag loyal erfüllen.“

Sonntag, 12. Oktober 1919.

Gegen ein Uhr verbreitet sich die Nachricht, dass ein Telegramm angekommen sei, wonach unser Lager in zwei Transporten am 20. und 26. dss Mts. nach Hause befördert werden solle.

Die Nachricht vom Mittag bestätigt sich am Abend. Bis jetzt ist noch kein Gegenbefehl eingetroffen. Aber waren wir nicht vor einem Jahr genau soweit?

Montag, 13. Oktober 1919.

Nächsten Montag soll der erste Transport von 600 Mann abgehen. Ich bin diesem Trabsport zugeteilt. In Mainz sollen wir von deutschen Behörden übernommen werden.

Mittwoch, 15. Oktober 1919.

Ich schreibe einen Abschiedsbrief nach Spanien.

Träge geht die Zeit dahin.

Donnerstag, 16. Oktober 1919.

Es ist sehr kalt. Eisiger Nordwind fegt über die Insel.

Freitag, 17. Oktober 1919.

Noch drei Tage und drei Nächte.

HEIMKEHR .
(ohne Krawatte vorgetragen an einem bunten Abend)

Ihr lieben Freunde, die Ihr hier versammelt
Zur Reise quer durch Deutschland seht Ihr mich bereit,
Ihr wundert Euch, dass nicht am Kragen bammelt
Ein Schlips als Zeichen echter Männlichkeit.
Gestattet mir, dass ich Euch dieses deute:
Das neue Deutschland trägt verschiedene Couleur,
Doch an der Farbe kennt man seine Leute
Und wählt man falsch, passiert leicht ein Malheur.
Damit die Heimat nicht zum Feind mir werde
Bin ich politisch ganz charkterlos,
Halt’ mir vom Halse jegliche Beschwerde
Indem ich wechsle die Krawatte bloss.
Führt mich die Eisenbahn durch fromme Fluren,
Allwo das schwarze Zentrum ist zu Haus,
Zähl ich mich zu den christlichen Naturen
Und hole meinen schwarzen Schlips heraus.
Komm’ ich durch Städte, wo man sozial,
So ist im Nu der rote Schlips gebunden
Und fluch ein Weilchen ich aufs Kapital,
Ist zum Genossenherz der Weg gefunden
Recht schwierig dünkt Euch der Krawatte Wahl,
Wo der Parteien Grenzen sich verwischen,
Wo Demokraten, Bündler, Klerikal,
Konservativ und Spartakus sich mischen?
O nein, ich habe wohl es überdacht,
Der Unschuld weisse Farbe bricht mir Bahn,
Wenn nochso blutig tobt die Strassenschlacht,
Ich komme unversehrt am Ziele an.
So reise ich mit meiner leichten Bürde
Und rate Euch: Folgt der gewies’nen Spur,
Entbehrt auch Unbeständigkeit der Würde,
Beständig heute ist der Wechsel nur.
Doch, wenn dereinst nach Jahren bitt’rer Not
Im Gleichtakt wieder deutsche Herzen schlagen,
So will ich die drei Schlipse schwarz-weiss-rot
In engverknüftem Farbenknoten tragen.

Île Longue – Heimkehr / Retour à la patrie

Das Ende

Zwei grosse Ereignisse hatten das Jahr 1918 eingeleitet und unsere Gemüter auf das Heftigste bewegt. Die deutsche Frühjahrsoffensive und der Berner Austauschvertrag.

Alle Müdigkeit und Apathie war verflogen, als mit Anbruch des Frühjahrs die deutsche Offensive im Westen begann. Jetzt warteten wir wieder von Stunde zu Stunde auf Nachrichten von der Front. Die Ankunft der Zeitung war der wichtigste Augenblick im Lager. Eine hochgehende Welle des Hoffens, des Bangens lief durch uns. Wir erlebten, wie die Franzosen von den alten Forts der Insel die Broncemörser holten, um sie an die bedrohte Front zu werfen und wir wünschten ihnen, dass dies alles vergeblich sein möchte.

Mitten in die Erfolge der deutschen Heere hinein traf die Nachricht vom Abschluss des Berner Austauschvertrags, wonach alle Zivilinternierten bis zum 15. August heimbefördert sein sollten. Wir sollten wieder frei werden. Frei! Nach dreieinhalbjähriger Qual der Gefangenschaft! Wie ein Zauber erschien uns dies! Doch wer wollte an dem klaren Wortlaut des Vertrages zweifeln? Jetzt hielten wir es nicht mehr aus in den engen Baracken. Wir stürmten hinaus ins Freie wo frühlingswarm die Sonne schien und alle guten Geister in uns zu wecken schien. Mächtig blühte noch einmal der Turn- und Sportbetrieb auf und fand seinen erhebenden Ausdruck in der Abhaltung der Pfingstwettkämpfe auf dem Sportplatz mit gemeinsamen Freiübungen und Spielen, an denen das ganze Lager teilnahm.

Aber wieder einmal liess der ersehnte Austausch auf sich warten. Es wurde Sommer. Am fünfzehnten August waren wir immer noch auf der Insel, nur eine kleine Anzahl Elsässer wurde an diesem Tage von der Insel abbefördert. Einige Wochen später folgte eine kleine Anzahl Deutscher aus Marokko. Wir selbst sollten vergebens warten.

Schlimmer aber als dies waren die Nachrichten, die von der Front kamen. War uns die Zurücknahme der deutschen Truppen aus dem Sack an der Marne noch erklärlich er-schienen, so zeigten doch die folgenden Wochen, dass unsere Kräfte nicht mehr stark genug waren, den Krieg mit einem Sieg zu beenden. Wir erlebten mit, wie die Front abbrökelte. Die französischen Zeitungen überschlugen sich in Siegesgeschrei. Da erfolgte plötzlich der Zusammenbruch der Balkanfront.

Immer verzweifelter schien die Lage unserer Heimat und dann kam der furchtbare Tag, der alle Hoffnungen auf ein ehrenvolles Ende in Trümmer schlug: Der elfte November. Nun waren wir Gefangenen erbarmungslos der Härte der Sieger ausgeliefert.

Am elften November 1918 donnerten aus Brest die Geschütze zu uns herüber und verkündeten damit den schmählichsten Waffenstillstand der Geschichte. Die meisten

Île Longue – In der Baracke / Dans la baraque

Kameraden brachen an diesem Tage zusammen. Vernichtet war alles, was uns vier Jahre lang aufrecht erhalten hatte, vernichtet die Hoffnung, von den grausamen Siegern bald der Freiheit zurückgegeben zu werden. Der frische Hauch, der noch vor wenigen Monaten durch den Moderstaub der Baracken geweht hatte, war verschwunden. Wir waren alle totenblass, als wir die Waffenstillstandsbedingungen lasen. Das wagten sie uns anzutun! Und die Heimat, musste sie soche Bedingungen annehmen?

Im tiefsten Innern zerrissen, stürzte ich aus der Baracke und irrte den Morgen über am Drahtzaun entlang, unfähig, das Unglaubliche zu fassen. Wie ein Leichentuch breitete sich das Geschehen über das Lager. Es vergingen Tage, Wochen, Monate, ein weiteres Jahr. Wie sinnlos war es jetzt noch, uns Gefangene zu quälen und uns zurückzuhalten. Bitteres Heimweh nagte in uns. Unfähig zu allem Tun, legten wir uns auf die Strohsäcke und brüteten. Hörten das Ticken des Holzwurms im Gebälk.

Ein ganzes Jahr ging noch dahin. Wir machten uns darauf gefasst, dass wir überhaupt nicht mehr nach Hause kämen, sondern von den Franzosen zum Aufbau in den zerstörten Gebieten verwendet würden. Noch im September 1919 wurden wir nach wie vor bewacht und behandelt. Gefangene versuchten auszubrechen und wurden wieder zurückgebracht. Mit dreissig Tagen Kasematte wurden sie bestraft. Eine schwere Grippe befiel noch das Lager und forderte Todesopfer. Schliesslich fiel noch ein gefangener Seemann unter der Mörderkugel eines französischen Postens der über den Drahtzaun in eine friedliche Baracke schoss. Einem zweiten Gefangenen wurde dabei das Schlüsselbein zerschmettert. Das Jahr 1919 näherte sich schon seinem Ende, als am zwölften Oktober ein Telegramm eintraf, nach welchem unsere Abreise auf den Zwanzigsten Oktober festgesetzt wurde. Wir waren seelisch so zerstört, dass wir die Mitteilung mit völliger Apathie aufnahmen.

Wir waren zudem nicht sicher, oh nicht ein Gegenbefehl oder eine sonstige Massregel die Ausführung des gegebenen Versprechens zunichte machen würde. Als sich aber die Anzeichen verdichteten, dass wir doch endlich befreit würden, wich ganz allmählich die Gleichgültigkeit, mit der wir uns gegen so viele erfahrene Enttäuschungen gewappnet hatten. So schwebten wir während der entscheidenden Tage zwischen dem Warten auf Befreiung und der Angst, dass alles nur Täuschung sei. Am zwanzigsten Oktober fand die Abreise von Ile Longue statt. Wir packten die notwendigsten, stark gelichteten Habseligkeiten zusammen und wurden eingeschifft. In Brest wimmelte es von Amerikanern. Wir bestiegen den Zug, diesmal ohne Bewachung, der auf vielen Stationen hielt. Wir stiegen aus und kauften wie die Kinder alles, was es auf den Bahnbuffets gab. Während der folgenden Nacht schlich der Zug nördlich an Paris vorbei, dann fuhren wir der Marne entlang. Ich las die Statioin „Dormans“ wo die Deutschen noch im Sommer 1918 am weitesten nach Süden gestossen waren.

Ein vollständig ausgebrannter Zug stand noch auf den Geleisen. In Chateau-Thierry standen deutsche Kriegsgefangene hinter einem Zaun. Einem deutschen Soldaten, der auf dem Bahnhof stand, warfen wir einen Zivilmantel über und brachten ihn mit.

Die armen Kerls mussten ja noch länger in Gefangenschaft bleiben. Es wurde wieder Nacht, während wir langsam nach Osten fuhren. Da wurde es Tag. Ich las die Station Weissenburg.

Dass es über die Grenze ging, merkten wir daran, dass uns die auf dem Felde arbeitende Bevölkerung zuwinkte. Und da presste sich mir plötzlich die Kehle zusammen und wie ein Wunder, fing das tote Herz laut zu schlagen an.

Ueberall waren die Stationen von französischen Truppen besetzt. Endlich „Goldstein“ bei Frankfurt, der äusserste Posten des von den Franzosen besetzten Gebiets. Die Negerwache blieb zurück. Erst jetzt war ich in Deutschland und fühlte mich frei.

Île Longue – Blick auf die Brester Bucht / Vue sur la Rade de Brest
Île Longue – Wer ist der Gefangene / Qui est le prisonnier
Île Longue – Der Berner Gefangenenaustausch von 1918 / L’accord d’échange de Berne de 1918
Île Longue – Der Wachmann vom Innenministerium / Le garde du ministère de l’Intérieur
Île Longue – Austausch / Echange
Île Longue – Die Lagerautoritaet / L’autorité de camp
Île Longue – Entwurf zu einem Exlibris / Ebauche d’un Ex Libris
Île Longue – Hockey / Hockey sur gazon
Île Longue – Fussball / Football
Île Longue – Theater-Propaganda / La propagande de théâtre
Île Longue – Die Medaille / La Médaille
Ludwig Thoma
Île Longue – Alt Heidelberg 1 / Vieux Heidelberg 1
Wilhelm Meyer-Förster
Île Longue – Alt Heidelberg 2 / Vieux Heidelberg 2
Wilhelm Meyer-Förster
Île Longue – Die versunkene Glocke 2 / La cloche engloutie 2
Gerhart Hauptmann
Île Longue – Die versunkene Glocke 1 / La cloche engloutie 1
Gerhart Hauptmann

Documents
fuenf_jahre_hinter_stacheldraht.pdf 16.1 MiB / PDF

„Selbstzeugnisse revisited“ – Hellmuth Felle auf Île Longue 210.2 kiB / PDF
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